Wer nicht arbeitet, wird zukünftig nicht voll behandelt
Seit 2011 überprüft die EU-Kommission, die quasi die Regierung des Staatenbundes darstellt, die Haushaltspläne der einzelnen Mitgliedstaaten. In länderspezifischen Empfehlungen bewerten EU-Experten die geplanten Gesetze. Obwohl das - durchaus umstrittene - Hauptziel die Haushaltsdisziplin, also das Vermeiden staatlicher Schulden ist, sorgen sich die EU-Kommissare im Falle Lettlands auch um das Soziale: Sie kritisieren die Ungleichheit zwischen arm und reich, die Mängel in der gesundheitlichen Versorgung und die niedrigen Steuereinnahmen, mit denen der lettische Fiskus die Vermögenden schont.
Die EU-Flagge, Foto: Gemeinfrei, Link
Soziale Ungleichheit
Die EU-Kommission stuft die soziale Ungleichheit in Lettland als "hoch" ein. Das Fünftel der reichsten Einkommensbezieher verdiente im letzten Jahr 6,3 mal mehr als das ärmste. Obwohl die Regierung von der Flattax zur progressiven Versteuerung übergeht, bemängeln die Experten, dass Geringverdiener immer noch zu stark belastet sind. Für sie bleibt Schwarzarbeit verlockend. Insgesamt sind die Steuereinnahmen zu spärlich, um eine wirksame Umverteilungspolitik zu betreiben: "Der geringe Anteil der Steuereinnahmen im Verhältnis zum BIP begrenzt die nachhaltige Förderung öffentlicher Dienste und sozialer Integration. Im Vergleich zu anderen EU-Ländern wird das Ertragspotenzial bei der Vermögens- und Kapitalbesteuerung kaum genutzt." (ec.europa.eu)
Die Folge ist ein unterfinanzierter Sozialstaat, der nicht imstande ist, Benachteiligte vor Armutsrisiken und sozialem Ausschluss zu bewahren. Die Armutsquoten behinderter und älterer Bürger gehörten zu den höchsten in Europa, die Reform des Mindesteinkommens, die 2014 angekündigt worden sei, habe nicht stattgefunden. Auch die Mindestrente sei seit 2006 nicht erhöht worden. Der Standard sozialer Betreuung bleibe hingegen niedrig. Der Anteil jener, die in Unterkünften mit schweren Mängeln wohnen müssen, sei ebenfalls überdurchschnittlich hoch, sozialer Wohnungsbau dagegen eine Seltenheit.
Valdis Dombrovskis, stellvertretender Vorsitzender der EU-Kommission, kommentierte die beträchtliche soziale Ungleichheit, die in Lettland wie in den übrigen baltischen Ländern zu beobachten ist: "...der Spalt zwischen Reichen und Armen ist ziemlich groß. Deshalb müsste die Regierung mehr tun, um sozial benachteiligte Einwohner mit geringer Qualifizierung zu helfen, eine legale Arbeit zu finden." (lsm.lv) Dombrovskis war während der Finanzkrise lettischer Ministerpräsident. Für einen Teil der sozialen Probleme trägt der heutige EU-Kommissar durch die Politik der inneren Abwertung, die er während seiner Amtszeit betrieb, selbst Verantwortung.
Die EU-Kommission empfiehlt, für Erwerbslose mehr Fortbildung und Trainingsprogramme anzubieten. Zwar entwickele sich der Arbeitsmarkt stabil - dank Geburtenrückgangs und Auswanderung - doch die Möglichkeiten, eine Beschäftigung zu finden, seien regional sehr unterschiedlich und abhängig vom Qualifizierungsniveau. Zugleich lobt die EU einige Fortschritte in der beruflichen Qualifizierung, die aber nicht hinreichten.
Ausschluss von medizinischer Versorgung
Die lettischen Parlamentarier beschlossen im letzten Jahr, nur noch Einkommensbeziehern, die Sozialabgaben zahlen, und einigen speziellen Gruppen die medizinische Versorgung im bisherigen Umfang zu gewährleisten. Das bedeutet, dass ab 2019 gerade jene, die keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben, von der medizinischen Versorgung teilweise ausgeschlossen werden könnten.
Trotz der Budgeterhöhung für das Gesundheitsressort bleiben die staatlichen Ausgaben im EU-Vergleich weit unter dem Durchschnitt. "Die Heilerfolge sind relativ dürftig und der rechtzeitige Zugang zu einer erschwinglichen medizinischen Behandlung bleibt ein Anliegen. Durch die hohen Zuzahlungen aus eigener Tasche und die Unterteilung der gesundheitlichen Versorgung in zwei Stufen (`voll` und `minimal`) besteht für einige Gruppen das Risiko eines eingeschränkten Zugangs, was die Heilerfolge beeinträchtigt."
Zur minimalen Behandlung gehören zukünftig noch die Notfallversorgung, Geburtshilfe, Hausarztbesuche und die Erstattung für einige Medikamente und medizinische Hilfsmittel. Ineta Rezevska, Vertreterin des lettischen Menschenrechtsbüros, schätzt, dass etwa 300.000 Einwohner von der `vollen` Versorgung ausgeschlossen werden könnten, jene, die weder sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind, noch als Selbstständige einzahlen oder zu den speziellen Gruppen zählen, denen die Regierung die Vollversorgung weiterhin gewähren will.
Agnese Dagile, Wirtschaftsexpertin der EU-Kommission in Lettland, befürchtet zudem, dass zukünftig die Notdienste überbeansprucht werden könnten, weil die Rettungssanitäter allen weiterhin kostenlos zur Verfügung stehen (lsm.lv). Ob sich die lettische Regierung die EU-Empfehlungen zu Herzen nimmt, bleibt fraglich. Erfahrungsgemäß finden diese EU-Papiere bei den nationalen Regierungen und in der Öffentlichkeit kaum Beachtung.
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