Für wen lohnt es sich überhaupt, zur Wahl zu gehen?
Arnis Kaktins, Leiter des Umfrage-Instituts SKDS, überraschte das Ergebnis im Interview mit Latvijas Radio nicht besonders (lsm.lv). Seit Jahren erfragen seine Mitarbeiter die politischen Einschätzungen der Bürger, die stets eine erhebliche Skepsis gegenüber dem parlamentarisch-repräsentativen System und den Politikern bekunden. Seit 2013 ermitteln sie, ob die Befragten folgender Aussage zustimmen: “Solche Menschen wie Sie haben keinen Einfluss darauf, was die Lettische Saeima und die Regierung tun.” Laut Kaktins haben sich seitdem die Meinungen kaum geändert. Bei der neuesten Erhebung vom Juni 2020 widersprachen nur vier Prozent dieser Aussage vollständig, weitere 14 Prozent stimmten eher nicht zu; 31 Prozent hingegen stimmten eher zu und 49 Prozent waren vollständig dieser Auffassung. Nach einer solchen Erhebung stellt sich die Frage: Wie demokratisch ist die parlamentarische Demokratie überhaupt?
Lettische Saeima, Foto: Saeima - Flickr: Saeimas s?žu z?le, CC BY-SA 2.0, Link
Kaktins erläuterte die Demokratieskepsis lettischer Bürger an jüngsten politischen Entscheidungen: “Auch wenn wir uns die Angelegenheiten aus der jüngsten Zeit anschauen, in welcher Weise das Kulturministerium über den Bau und Ort einer neuen Konzerthalle entscheidet. Das ist eine große Sache, viel Geld, ein bedeutendes Objekt, das unzweifelhaft von der Gesellschaft diskutiert werden müsste. Geschah etwas in dieser Art? Einfach zusammenkommen und entscheiden - so wie wir es uns denken, wird es geschehen. Können wir sagen, dass die Öffentlichkeit irgendeinen Einfluss hatte? Wohl nicht.” Eine ähnliche öffentliche Nichtbeteiligung stellt Kaktins bei den geplanten Gemeindereformen fest.
Die lettische Skepsis fällt zwar besonders deutlich aus, stellt aber in den parlamentarischen Systemen des Westens keine Besonderheit dar. Allerdings ließe sich die Frage, wessen Anliegen von Abgeordneten und Ministern kaum bis gar nicht berücksichtigt werden, differenzierter beantworten. Lea Elsässer, Svenja Hense und Armin Schäfer erforschten im Auftrag des deutschen Arbeits- und Sozialministeriums das Thema: “Systematisch verzerrte Entscheidungen? Die Responsivität der deutschen Politik von 1998 bis 2015.” (armuts-und-reichtumsbericht.de) Responsivität bedeutet, dass Politiker die Interessen und Meinungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen gleichermaßen bei ihren Entscheidungen berücksichtigen.
Die Politik- und Sozialwissenschaftler fanden heraus, dass ähnlich wie in den USA auch in Deutschland Regierungsvertreter und Abgeordnete überwiegend im Sinne der Reichen und Wohlhabenden entscheiden, während die Interessen armer Wählergruppen kaum beachtet werden oder das politische Establishment sich sogar gegen sie entscheidet.
“Für den Zeitraum von 1998 [Beginn der rot-grünen Regierung] bis 2013 [Ende der schwarz-gelben Koalition] finden wir einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Mehrheitsmeinung höherer Einkommensgruppen und den danach getroffenen politischen Entscheidungen, aber keinen oder sogar einen negativen Zusammenhang für die Armen. Dieses Muster ist besonders deutlich ausgeprägt, wenn sich Befragte mit unterschiedlichem Einkommen in ihren politischen Meinungen unterscheiden. Auch die Präferenzen der Arbeiter_innen werden seltener umgesetzt als etwa die von Beamt_innen oder Selbstständigen,” stellten die Forscher fest.
Sie beobachteten zudem das Phänomen, dass wohlhabendere Bürger deutlich häufiger zur Wahlurne gehen als ärmere. “Wenn davon ausgegangen wird, dass im politischen Prozess die Interessen derjenigen stärker berücksichtigt werden, die aktiv politisch partizipieren, kann daraus ungleiche Responsivität resultieren und zu einer Abwärtsspirale führen, in der sich soziale und politische Ungleichheit wechselseitig verstärken.”
Sind nun Arme “selber schuld”, wenn Politiker zuwenig gegen soziale Ungleichheit tun, weil sie zu selten wählen gehen? Oder sind Arme resigniert, weil die Parteien und Politiker, für die sie votierten, nicht in ihrem Sinne handelten? Die Antwort auf diese Frage bedürfte weiterer wissenschaftlicher Untersuchungen.
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