Lettisches Centrum Münster e.V.

   

Lettische Grüne aus der EU-Fraktion Grüne/EFA ausgeschlossen
12.11.2019


Lettischer Grünen-Parteivorsitzender Edgars Tavars wirft westeuropäischen Grünen einen „aggressiven Neoliberalismus“ vor

Parteilogo der lettischen Grünen

Auf die Frage, weshalb sich Grüne in Osteuropa „so schwer tun“, gab Reinhard Bütikofer, der bisherige deutsche Mitvorsitzende der Europäischen Grünen Partei (EGP), der Süddeutschen Zeitung folgende Antwort: Starke grüne Parteien seien im „progressiven Spektrum angesiedelt“. Im Osten finde das keine Resonanz, „weil die Emanzipation vom sowjetischen Modell nicht von links kam, sondern von rechts.“ (sueddeutsche.de). Allerdings beteiligte sich am Kampf gegen die Sowjetunion auch die lettische Umweltbewegung, aus der am 13. Januar 1990 die Partei der Grünen hervorging, die 2004 für einige Monate mit Indulis Emsis den weltweit ersten grünen Regierungschef stellte. Abgesehen von einem Kern umweltpolitischer Themen hat diese Partei aber nur wenig mit dem progressiven Anspruch der westeuropäischen Grünen gemeinsam. Man darf ihre jahrzehntelange Mitgliedschaft in der EGP als west-östliches Missverständnis betrachten, denn die lettischen Grünen sind eine durch und durch konservative Partei. Nun wurde sie auf dem Kongress der EGP am 10. November 2019 im finnischen Tampere ausgeschlossen. Die lettischen Grünen hatten angeblich selbst ihren Austritt erwogen.

Parteilogo der lettischen Grünen, Foto: Unbekannt - selbst vektorisiert, Vorlage: offizielle Website, Gemeinfrei, Link

Gestörte Kommunikation

Bütikofers Nachfolger, der Österreicher Thomas Waitz, erläuterte der Lsm.lv-Redaktion, weshalb der Parteikongress mit 81,7 Prozent der Delegiertenstimmen für den Ausschluss der Letten gestimmt hat. Der Hauptgrund sei, wie sich die lettischen Grünen in den letzten Jahren positioniert hätten. Zudem seien die Kommunikation mit ihnen und Debatten zu wichtigen Fragen schwierig gewesen. Sie hätten nur zögerlich auf E-Mail-Anfragen und Anrufe reagiert, sich nicht zu gemeinsamen Treffen eingefunden und sich nicht an der gemeinsamen Arbeit beteiligt. Falls sich die Führung ändere und diese eine neue politische Richtung einschlage, seien die europäischen Grünen bereit, die Letten in die „grüne Familie“ wieder aufzunehmen, aber dafür müsse man auch neues Vertrauen aufbauen. (lsm.lv)

"die sogenannten modernen Grünen Europas..."

Edgars Tavars, Vorsitzender der Lettischen Grünen Partei (LZP), schien nicht gerade erschüttert. „Dieser Beschluss ist für mich keine Überraschung, denn auch wir, die lettischen `Grünen`, haben schon längere Zeit über die Möglichkeit eines Austritts aus diesem Bündnis diskutiert, denn es wurde immer schwieriger, unsere Partei mit diesen sogenannten modernen Grünen Europas zu assoziieren. Das zeigte auch dieser Kongress, auf dem uns nun schon öffentlich eine negative Haltung gegen die gleichgeschlechtliche Ehe vorgeworfen wurde und dass unsere Parteifreunde nicht die Rechte der russischen Minderheit auf eine staatlich finanzierte Ausbildung in der Muttersprache Russisch unterstützen, man warf uns vor, dass wir für Patriotismus eintreten, nicht für globale Anschauungen. Leider herrschen in den letzten Jahren in der EZP keine grünen Ansichten vor, sondern ein aggressiver Neoliberalismus. Das zeigte auch aktiv dieser Kongress.“ (lsm.lv)

Nicht rot- oder regenbogenfarben...

Die lettischen Grünen haben den Schutz der traditionellen Familie im Programm, sie wenden sich gegen die gleichgeschlechtliche Ehe, sind gegen Flüchtlingsquoten, gegen die Ratifizierung der Istanbuler Konvention zur Verhütung von häuslicher Gewalt gegen Frauen (LP: hier) und plädieren mit anderen nationalkonservativen Parteien ebenso dafür, in den russischen Minderheitenschulen des Landes nach und nach Lettisch als Unterrichtssprache einzuführen.

Tavars will einen Konflikt zwischen „patriotisch“ gesinnten und „global“ denkenden Grünen erkannt haben. Letztere würfen den Letten Protektionismus vor. Tavars konstruiert einen Gegensatz zwischen den Absichten der „globalen“ Grünen, die auf globalem Niveau den Treibhauseffekt mit viel Geld bekämpfen wollten und den Plänen seiner eigenen Partei, mit lokaler biologischer Landwirtschaft auf den weltweiten Temperaturanstieg zu reagieren. Er drückt den Riss mit den Westeuropäern symbolisch mit den Farben der eigenen Partei aus: „Wir sehen keine Vorbedingungen für die gemeinsame grüne Idee, sexuell, ethnisch, ökonomisch die Richtigen zu sein für Linke oder Moderne. Unsere Fahne ist grün-weiß-grün, nicht regenbogen- oder rotfarben.“ (sputniknewslv.com)

Missbrauchter Begriff

West-östliche Begriffsverwirrung herrscht offenbar nicht nur beim politischen Begriff „grün“ vor. Es ist eigenartig, was Tavars unter „Neoliberalismus“ versteht; für ihn ist es ein Kampfbegriff, der sich gegen linksliberale Politik richtet: eine Politik der offenen Grenzen, der Toleranz gegenüber Minderheiten und diffus wahrgenommenen globalen Ansichten im allgemeinen. Auf diese Weise wird der sonst von linken Wirtschaftskritikern verwendete Begriff für ein sehr konservatives Publikum verfälscht und umgedeutet.

Unter dem Schlagwort „Neoliberalismus“ fassten ursprünglich Keynesianer und Marxisten ihre Kritik an einer angebotsorientierten, also unternehmerfreundlichen Wirtschafts- und Sozialpolitik zusammen. Neoliberale Politik, wie sie nach Ideen Milton Friedmans erstmals in Pinochets Militärdiktatur, dann von Margarete Thatcher und Ronald Reagan praktiziert wurde und in Deutschland in der rotgrünen Schröder-Ära einen weiteren Höhepunkt erreichte, lässt sich mit den Kriterien des Washington-Konsenses, auf den sich in den 80er Jahren der Internationale Währungsfonds geeinigt hatte, wie folgt skizzieren: Zur neoliberalen Wirtschaftspolitik gehören die Kürzungen der Staatsausgaben, Liberalisierung der Handelspolitik, Privatisierung der öffentlichen Daseinsvorsorge, Deregulierung und Entbürokratisierung (womit zuweilen eine Entdemokratisierung umschrieben wird), allgemeine Steuersenkungen und Abbau von Subventionen (damit können z.B. auch Sozial- oder Arbeitslosenhilfe gemeint sein).

"die am weitesten neoliberalisierte Volkswirtschaft Europas"

Demzufolge fällt die Kritik des „aggressiven Neoliberalismus“, den Tavars bei seinen ehemaligen europäischen Parteifreunden wittert, auf die eigene Partei zurück. Seit 2002 bilden die lettischen Grünen mit der nationalkonservativen Bauernpartei die „Union der Grünen und Bauern“, die an vielen Regierungskoalitionen beteiligt war und Jahrzehnte lettischer Politik maßgeblich mitgestaltet hat. Obwohl die Regierungen häufig wechselten, blieb die Politik angebots- und kapitalorientiert. Die Kapitalbesteuerung blieb gering, vieles wurde privatisiert, nach der Finanzkrise büßten Lohnabhängige mit einer fiskalischen Schocktherapie, nicht die Krisenverursacher in den Banken wurden zur Rechenschaft gezogen. Der lettische Sozialstaat kann Benachteiligte nicht hinreichend unterstützen, weil der Staat zu wenig einnimmt und sich an Haushaltsvorgaben aus Brüssel orientiert. US-Kritiker Michael Hudson bezeichnete Lettland „als die am weitesten neoliberalisierte Volkswirtschaft Europas“1. An ihrer Entstehung und Ausgestaltung  hatten lettische Grüne ihren Anteil.


Quelle:

1 Michael Hudson, Der Sektor, Warum die globale Finanzwirtschaft uns zerstört, Stuttgart 2016, S. 401.




 
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