Lettisches Centrum Münster e.V.

   
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Lettland: Aivars Lembergs ist für die kommende Saeima-Wahl Spitzenkandidat der Bauernpartei
19.07.2022


Das Stehaufmännchen meldet sich auf der politischen Bühne zurück und könnte die lettische Sanktionspolitik infragestellen

Lembergs vor einer Untersuchungskommission 2017, Foto: Saeima CC BY-SA 2.0, Link

Der langjährige Bürgermeister der Hafenstadt Ventspils, Aivars Lembergs, befindet sich nicht mehr im Rigaer Zentralgefängnis, wo er eine fünfjährige Haftstrafe verbüßen sollte. Statt dessen nominierte ihn die Bauernpartei am 18. Juli 2022 zum Spitzenkandidaten für die bevorstehenden Saeima-Wahlen, die Anfang Oktober stattfinden.


Die Union der Grünen und Bauern (Zalo un Zemnieku savieniba, ZZS), die sich derzeit in der Opposition befindet, hat am Montag offiziell verkündet, dass sie Aivars Lembergs, der wieder als Stadtrat in Ventspils aktiv ist, zum Spitzenkandidaten für die Saeima-Wahl nominiert hat. Laut Umfragen habe Lembergs im Volk die größte Unterstützung. Der ZZS sei es wichtig, einen erfahrenen Politiker für das Amt des Ministerpräsidenten vorzuschlagen, der die bestehende Krise bewältigen könne. Auf der ZZS-Webseite wird Lembergs zitiert, der die Regierung angreift (zzs.lv). In der Pandemiepolitik habe sie gehandelt, ohne die sozialen und wirtschaftlichen Folgen zu bedenken. Karins` Kabinett fasse Beschlüsse emotional und folge damit schmalen Interessen innerhalb oder außerhalb Lettlands. Die ZZS wird bei der Wahl ohne Grüne antreten, die das Bündnis verlassen haben und auf einer gemeinsamen Liste mit der Lettischen Allianz der Regionen (Latvijas Regionu Apvieniba) und der Partei Liepajas (Liepajas partija) kandidieren werden. Die Grünen hatten die Zusammmenarbeit der ZZS mit Lembergs` Stadtpartei Für Lettland und Ventspils (Latvijai un Ventspilij, LUV) kritisiert. Armands Krauze, Vorsitzender der Bauernpartei, versicherte aber im Mai 2022, dass die ZZS ihren Namen behalten werde, weil es im verbleibenden Teil genügend “grüne Bauern” gebe (nra.lv). Die Bauernpartei hat sich die Lettische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Latvijas Socialdemokratiska Stradnieku partija, LSDSP) zum neuen Bündnispartner gewählt. Die einstmals stolzen Sozialdemokraten, die die erste lettische Republik zwischen 1918 und 1934 mitgeprägt haben, sind nach inneren Streitigkeiten und Skandalen der letzten Jahrzehnte zur Splitterpartei verkommen. Ein Bündnis mit der Bauernpartei könnte einigen ihrer Kandidaten nach langer Zeit einen Parlamentssitz einbringen.


Seit der lettischen Unabhängigkeit regiert Lembergs mit der LUV die kleine Hafenstadt, die davon profitiert, Umschlagsplatz für fossile Brennstoffe aus Russland zu sein. Derzeit ist es Lembergs allerdings verboten, das Amt des Bürgermeisters auszuüben. Im Februar des letzten Jahres verurteilte ihn das Rigaer Bezirksgericht in erster Instanz wegen Geldwäsche, Bestechung, unerlaubter Firmen-Beteiligung, Dokumentenfälschung und Vermögensverschleierung zu fünf Jahren Haft; er wurde gleich nach Verkündigung des Urteils aus dem Gerichtssaal abgeführt und ins Rigaer Zentralgefängnis gebracht. Dennoch errang die LUV bei den Kommunalwahlen im Juni 2021 abermals, wenn auch knapper als üblich, die absolute Mehrheit. Doch das Vorhaben, Ventspils per Homeoffice aus dem Rigaer Zentralgefängnis zu regieren, scheiterte. Das hielten wohl nicht alle Mitglieder der LUV-Fraktion für eine gute Idee. Seitdem ist Janis Vitolins Bürgermeister. Es war absehbar, dass Lembergs mit Hilfe seiner Anwälte nach Möglichkeiten suchte, sich aus dem Rigaer Verlies zu befreien. Im März urteilte das lettische Verfassungsgericht, dass es verfassungswidrig war, dass Lembergs sich als Häftling in Riga nicht aktiv an der Kommunalwahl beteiligen konnte (lsm.lv). Laut einem Wahlgesetz müssen sich Wähler auf dem Territorium der betreffenden Gemeinde befinden. Die Richter werteten dies als unzulässig, weil jeder Bürger Lettlands und der EU laut Verfassung das Recht haben, sich an Kommunalwahlen zu beteiligen.


Zudem klagte Lembergs gegen die Haftbedingungen und verlangte 100.000 Euro Schadensersatz. Die Gefängnisverwaltung habe ihm trotz vieler schriftlicher Anfragen medizinische Hilfe verweigert. Er habe vergeblich eine Booster-Impfung beantragt. Im Dezember sei er an Covid-19 erkrankt und er habe ein Drittel seiner Lunge eingebüßt. Der Presse gegenüber verweigerte die Gefängnisleitung eine Stellungnahme. Es stellte sich heraus, dass das Gefängnis für seine Insassen nur den umstrittenen Impfstoff Johnson&Johnson vorrätig hat, den die staatliche Impfkommission nicht für Boosterimpfungen empfiehlt (la.lv).


Ob seine Befreiung aus dem Zentralgefängnis der Covid-Erkrankung geschuldet war, wird in Presseberichten nicht erwähnt. Bereits im Februar erreichten seine Anwälte die Entlassung gegen 100.000 Euro Kaution. Ihr Mandant begab sich nach München, um sich in einer Klinik behandeln zu lassen (lsm.lv). Die Befürchtung, dass er nicht mehr nach Lettland zurückkommt, erwies sich als unbegründet. Der umstrittene Politiker mischt jetzt in Lettland wieder mit, mehr als zuvor und sieht in Freiheit seinem Berufungsprozess entgegen. In erster Instanz hatten die Verhandlungen zwölf Jahre gedauert. Im Mai stellte er in Ventspils sein Buch “Der Gerichtsprozess als Rache” vor (ventspils.lv). Nach dem Gerichtsurteil hatte sich Lembergs mit dem russischen Dissidenten Alexei Nawalny verglichen (LP: hier).


Derzeit liefert sich Lembergs auf Delfi.lv einen Schlagabtausch mit Girts Valdis Kristovskis, der die Ventspilser Opposition anführt. Kristovskis gehörte unter verschiedenen Ministerpräsidenten früheren Kabinetten an. Nun bildet der Vienotiba-Politiker mit einem weiteren Abgeordneten eine zweiköpfige Fraktion im Ventspilser Stadtrat (LUV hat sieben Ratsmitglieder). Dem berüchtigten Kontrahenten, dem seine Gegner seit Jahrzehnten fragwürdige Machenschaften unterstellen, warf er vor, in Ventspils ein “kleptokratisches System” errichtet zu haben, an dem sich ein ganzer Klüngel bereichert: “Nicht von einem neuen, sondern von einem von Lembergs selbst korrumpierten, viele Jahre gepflegten kleptokratischen Schema zur Ausplünderung öffentlicher Mittel der Kommune ist die Rede: Nämlich von der Verwaltung des Rigaer Freihafens, dem Stadtrat, den kommunalen Kapitalgesellschaften; sogar die Hochschule von Ventspils und das Technikum stehen als großzügige Vereinsmitglieder auf der Beitragsliste der Entwicklungsagentur von Ventspils (VAA), deren Vorsitzender kein anderer als Lembergs ist. Die Vereinsgelder werden im Wissen gezahlt, dass beinahe die Hälfte der für die VAA `gespendeten` Mittel in Höhe von 100.000 Euro dabei verausgabt werden, um alljährlich dem Anführer einer Stadt mit Zukunft, Lembergs, das `Gehalt` zu verdoppeln.” (delfi.lv) Und das ist nur eine der Einkommensquellen, die Kristovskis seinem politischen Gegner vorwirft. Lembergs stritt in einem eigenen Beitrag die Vorwürfe ab (delfi.lv), Kristovskis legte nach (delfi.lv). Dessen Partei Vienotiba, die in Riga den lettischen Ministerpräsidenten stellt, bekämpft seit Jahren den “Oligarchen” Lembergs.


Die Bezeichnung “Oligarch” weist auf die Geschäftsbeziehungen Lembergs mit Russland hin. Es ist kein Zufall, dass jene, die die jetzigen, transatlantisch orientierten Regierungsparteien als “Oligarchen” bezeichnen, sich stets für bessere Beziehungen mit Russland einsetzten, schon aus geschäftlichen Gründen. Schon 2014 warnte Lembergs die Regierung, es mit der Kritik an Russland nicht zu weit zu treiben und sich aus dem geopolitischen Konflikt herauszuhalten. Auch in der gegenwärtigen Lage plädiert er für eine deutlich gemäßigtere, verhandlungsbereitere Außenpolitik als die amtierende Mitte-Rechts-Regierung, wie er am 25. März 2022 gegenüber der NRA formulierte:


“Das ukrainische Volk hat in ehrlichen Wahlen selbst seinen Präsidenten gewählt. Zu versuchen, mit Waffen in den Händen die Politik eines Nachbarlandes zu ändern, ist inakzeptabel. Deshalb ist meine Haltung weiterhin, dass es das Wichtigste ist, den Krieg zu beenden und sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Ich unterstütze Präsident Wolodymyr Selenskyi vollkommen, der vor etwa zwei Wochen eine Initiative für Verhandlungen formulierte. Ich war der erste unter lettischen Politikern, der diese Initiative unterstützte. Danach stimmten dieser Initiative Frankreichs Präsident, dann auch der deutsche Kanzler, der türkische Präsident, Israels Premier und vor einigen Tagen auch der US-Präsident zu [allerdings nicht Boris Johnson, Anmerkung UB]. Ich habe kein Verständnis für diese Kläffer in Lettland, die sich die Hände reiben, darauf hoffend, dass Russland den Krieg verlieren wird und die Ukraine gewinnt. Der Krieg muss unverzüglich beendet werden. Anstelle des Krieges müssen Gespräche stattfinden. Mit dieser Ansicht unterscheide ich mich radikal von unseren Kooperationspartnern, die der Meinung sind, dass man Putin schlagen muss. Der richtige Weg ist es, den Krieg zu stoppen.” (nra.lv)


Damit formuliert Lembergs eine deutlich gemäßigtere Haltung als beispielsweise Verteidigungsminister Artis Pabriks, der die Niederlage Putins und Russlands fordert (LP: hier). Damit könnte die ZZS dem Wähler zur Saeima-Wahl am 1. Oktober 2022 eine Alternative zum strikt transatlantischen Kurs der Karins-Regierung anbieten. Die fragwürdige Sanktionspolitik, die gerade die lettische Regierung auf EU-Ebene einfordert und die Inflation und steigende Energiepreise verursacht, könnte der ZZS in die Hände spielen.


Udo Bongartz

 

LP-Artikel zur lettischen Regierung und zu EU-Sanktionen gegen Russland


Krisjanis Karins und Roberta Metsola fordern den Sieg der Ukraine (lcm.lv)


Lettische Medien berichten verkürzt über den Friedensappell des Papstes (lcm.lv)


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Die Re:Baltica-Redaktion recherchiert das Vermögen sanktionierter russischer Milliardäre (lcm.lv) 




 
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