Das Robert-Koch-Institut stuft Lettland als Hochrisiko-Gebiet ein
08.10.2021
Covid-19: Lettische Regierung verstärkt den Druck auf Ungeimpfte
Pandemiebekämpfungsmaßnahmen und Proteste dagegen gab es auch zur Zeit der sogenannten Spanischen Grippe am Ende des Ersten Weltkriegs, Foto: Autor unbekannt oder nicht angegeben, Gemeinfrei, Link
In den letzten Wochen zeigt die Kurve der Neuinfektionen fast senkrecht nach oben. Seit Ende September ist unter den knapp zwei Millionen Einwohnern die Zahl der positiv Getesteten fast jeden Tag vierstellig. Lettland gehört momentan gemeinsam mit seinen baltischen Nachbarn zu den europäischen Corona-Hotspots. Mediziner warnen vor überfüllten Kliniken; die Regierung plant den nächsten Ausnahmezustand und erhöht den Druck auf staatliche Angestellte, sich impfen zu lassen. Ministerpräsident Krisjanis Karins macht “gewisse Parlamentarier” und “Pseudo-Politiker” für die Situation verantwortlich.
Nach einer zehnstündigen Sitzung einigte sich das Ministerkabinett in der Nacht zum Freitag darauf, für nächste Woche erneut einen dreimonatigen Covid-19-Ausnahmezustand zu beschließen (lsm.lv). Er wird wieder zu zahlreichen Beschränkungen des öffentlichen Lebens führen. Nach bisherigem Stand – die Minister klären noch Details in einer weiteren Sitzung – sollen nur noch Lebensmittelgeschäfte frei zugänglich sein. Für den Zutritt zu anderen Läden oder Büros von Dienstleistern ist ein Covid-19-Zertifikat erforderlich, das die vollständige Impfung, Genesung oder einen aktuellen negativen Covid-Test bescheinigt; dieses Dokument soll auch in öffentlichen Kantinen, Kneipen und Restaurants vorgelegt werden. Öffentliche Veranstaltungen dürfen nur mit beschränkter Besucherzahl stattfinden.
Für staatliche oder kommunale Angestellte gilt am Arbeitsplatz grundsätzlich die Impfpflicht. Arbeiter und Angestellte, deren Präsenz im Büro oder im Betrieb nicht erforderlich ist, sollen zuhause arbeiten. Ob Homeoffice angeordnet wird, entscheiden die Vorgesetzten. An den Schulen findet weiterhin Präsenzunterricht statt. Für die Schülerinnen und Schüler gilt Maskenpflicht. Sie werden wöchentlich auf Covid-19 getestet.
Ziel der Regierung ist es, die Impfquote bei den Älteren auf 90 Prozent und im Durchschnitt der Bevölkerung auf 70 bis 75 Prozent zu erhöhen. Experten sehen in der im internationalen Vergleich geringen Impfquote, die derzeit 49,6 Prozent beträgt, die Ursache für die ungewöhnlich rasch ansteigenden Zahlen. Jurijs Perevoscikovs, der Vertreter des staatlichen Zentrums für Krankheitsprophylaxe und -kontrolle, der regelmäßig die Daten öffentlich verkündet und kommentiert, warnt, dass die Zahl der täglichen Neuinfektionen schon bald mehrere tausend betragen könne und der Grund sei nicht, dass sich die Zahl der Getesteten erhöhe, sie verringere sich sogar (lsm.lv). Unterteilt man die Inzidenz-Grafiken in Kurven für Geimpfte und Nichtgeimpfte, so zeigt sich, dass die Kurve der infizierten Nichtgeimpften rasant ansteigt, diejenige der infizierten Geimpften dagegen deutlich niedriger bleibt. Perevoscikovs empfiehlt, die persönlichen Begegnungen zwischen Menschen entschieden zu reduzieren, auf weniger als die Hälfte. Während sich die Lage in anderen Ländern entspannt, verschärft sie sich in Rumänien, Bulgarien und den baltischen Ländern, sie gehören zu den EU-Mitgliedern, die die geringsten Impfquoten aufweisen.
Uga Dumpis, Infektiologe der Lettischen Universität, hält die angekündigten Maßnahmen nicht für hinreichend. Sie hätten keine Wirkung, zumal Geimpfte, die sich weiterhin infizieren können, von den Beschränkungen entbunden seien. Zwei Expertengruppen hätten Konzepte ausgearbeitet; eine von beiden habe viel Strikteres vorgesehen. Lettland orientiere sich aber an Litauen, das allerdings einen höheren Anteil an Geimpften und Genesenen ausweist: “Aber wir sehen klar, dass dort die Beschränkungen nicht wirken, die Lage in Litauen verbessert sich nicht. Es ist schwer vorstellbar, dass bei uns Maßnahmen solcher Art den Zustand verbessern könnten.”
Schon am Freitag hatte das Gesundheitsministerium einen weiteren Ausnahmezustand für die Kliniken des Landes beschlossen, der kommende Woche beginnen wird (lsm.lv). Die Covid-19-Stationen füllen sich derzeit rasch. Ihre durchschnittliche Bettenauslastung beträgt schon 80 Prozent, in Rigas Austrumu Universitätsklinik 94 Prozent. Derzeit behandeln Ärztinnen und Pfleger landesweit mehr als 700 Covid-Patientinnen und Patienten stationär; davon befindet sich etwa ein Zehntel auf der Intensivstation. Medizinischer Ausnahmezustand bedeutet, dass die Vorgesetzten nun frei entscheiden können, wie sie Personal und Ressourcen einsetzen. Der Regelbetrieb wird aufgegeben und die Mediziner verschieben Operationstermine. Nur die Behandlungen von Patienten, deren Leben eine Verschiebung gefährdete, sind davon ausgenommen. Großkrankenhäuser können leichtere Fälle an kleinere Krankenhäuser abgeben. Der medizinische Rettungsdienst wird bei Notrufen priorisieren, also jene Patienten bevorzugen, deren Leben akut bedroht scheint.
Gesundheitsminister Daniels Pavluts kommentiert den Stand der Impfungen in seinem Land: “Leider hat eine Hälfte der lettischen Einwohner die Impfmöglichkeit genutzt, aber die andere nicht. Und das ist der hauptsächliche Grund, weshalb wir heute gezwungen sind, schwerwiegende Beschlüsse über Beschränkungen, Sicherheitsmaßnahmen zu fassen, welche viele für überzogen halten und anderen nicht hinreichend erscheinen werden. Die Gesamtheit der Sicherheitsmaßnahmen zielt darauf ab, Nichtgeimpfte vor ihren eigenen Entscheidungen und Handlungen zu schützen. Wenn es in Lettland nicht derart viele ungeimpfte Menschen gäbe, müssten wir diesen Schritt nicht gehen, denn gerade ungeimpfte Menschen erkranken schwer, füllen Lettlands Krankenhäuser und verursachen die Überlastung des lettischen Gesundheitssystems.” Pavluts wies auf den Widerstand in der Bevölkerung gegen Corona-Beschränkungen hin, deshalb zögerten Politiker, Entscheidungen zu treffen.
Ministerpräsident Krisjanis Karins machte nach einer Kabinettssitzung am 4. Oktober 2021 “gewisse Parlamentarier” und “Pseudo-Politiker” für die akute Corona-Welle verantwortlich (la.lv). Sie ermunterten die Bevölkerung dazu, sich dem Impfen zu verweigern. Sie redeten den Menschen ein, dass die Pandemie nicht existiere und deshalb keine Impfung erforderlich sei; das könne man seiner Ansicht nach als Lüge bezeichnen. “Sie müssten ernsthaft die Verantwortung für die negativen Folgen übernehmen, welche von ihnen meiner Ansicht nach von ihrer bösartigen Aufwiegelung der Gesellschaft ausgeht.”
Dabei dachte Karins wohl vor allem an den Parlamentarier Aldis Gobzems, der pandemieskeptische Demonstrationen organisiert, sich jüngst als Ungeimpfter mit großem gelben Davidstern auf einem T-Shirt inszenierte und im Parlament ohne Covid-Zertifikat erschien, so dass die Sitzung unterbrochen werden musste. Zudem dachte der Premier vermutlich auch an den Unternehmer und ehemaligen Verkehrsminister Ainars Slesers, der gerade eine neue Partei gegründet hat und sich auch an Gobzems` Protesten beteiligt. Inzwischen hat das Robert-Koch-Institut Lettland und Estland als neue Corona-Hochrisiko-Gebiete eingestuft (dlf.de).
UB
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