Pandemie-Krise: Lettische Regierung beschließt für Kliniken den Ausnahmezustand
10.12.2020
Corona-Leugner wegen Hooliganismus festgenommen
Die Operative Medizinische Kommission des Gesundheitsministeriums verkündete ihn auf einer Pressekonferenz vom 10. Dezember 2020. Das medizinische Personal kommt bei steigenden Infektionszahlen an seine Belastungsgrenze.So schön kann Corona sein, Foto: NIAID - CC BY 2.0, Saite
Eine “Arkartas situacija”, was in etwa Ausnahmezustand bedeutet, bezeichnet nicht Chaos und Katastrophe, der Begriff bestimmt lediglich, dass Entscheidungsträger sich an gewisse alltägliche Regulierungen nicht mehr halten müssen und in Notlagen freier entscheiden können. In den letzten Tagen meldeten lettische Kliniken eine zunehmende Auslastung der Betten, die für Covid-19-Patienten vorgesehen sind. In der renommierten Rigaer Stradina-Klinik haben sich nach Auskunft ihres Leiters Rinalds Mucins 105 Mitarbeiter infiziert; die Intensivstation ist zu über 80 Prozent belegt (diena.lv). Falls sich die Quote noch weiter erhöht, wird die Klinik ihren Behandlungsservice einschränken müssen. Der rapide Anstieg von Covid-19-Patienten hat also Folgen für die gesamte medizinische Versorgung. In Liepaja, Rezekne und der Regionalklinik in Valmiera sind die Intensivstationen komplett belegt.
Nach Ansicht Ilze Aizilnieces, Vorsitzende des Lettischen Ärzteverbands (LAB), befindet sich das Gesundheitswesen schon längst im Ausnahmezustand: Bislang haben sich mehr als 300 Ärztinnen und Ärzte, 87 Sanitäter, 571 Pfleger und 507 Pflegehilfen infiziert (lsm.lv) oder hatten Kontakt mit Infizierten. Diese Mitarbeiter müssen in Quarantäne, also für mindestens 14 Tage ersetzt werden. Die Personaldecke in lettischen Kliniken und Praxen war schon vor der Corona-Zeit viel zu angespannt, jetzt sollen Maßnahmen getroffen werden, dass sie nicht zerreißt. Die ausharrenden Mediziner und Pflegerinnen sind erschöpft. Laut Aizilniece bleibt auch den Hausärzten keine Freizeit, sie arbeiten das Wochenende durch. Die LAB-Vorsitzende weist allerdings auf fast 350 Freiwillige hin, ausgebildete Fachkräfte, die bereit seien, in schwieriger Lage auszuhelfen. Derzeit werden 744 Covid-19-Erkrankte in lettischen Kliniken behandelt, 40 Patienten sind schwer erkrankt.
Im Ausnahmezustand ist es erlaubt, dass die Rigaer Universitätskliniken und großen Regionalkrankenhäuser Patienten in kleinere, weniger gut ausgestattete Kliniken der zweiten und dritten Kategorie überführen, um Kapizitäten für die schweren Fälle vorzuhalten. Ausnahmezustand kann auch bedeuten, dass Mediziner Bereichen zugeteilt werden, auf die sie nicht spezialisiert sind.
Lettland war bis zum Herbst recht erfolgreich durch die Pandemiekrise gekommen. Im Sommer hatte die mittlere Baltenrepublik zeitweise die zweitniedrigsten Infektionszahlen Europas, gleich hinter dem Vatikan. Doch seit Oktober entwickeln sich die Ziffern auch hierzulande deutlich ansteigend. Die tägliche Zahl positiv Getesteter erreicht inzwischen höhrere dreistellige Werte, am 3. Dezember 2020 den bisherigen Negativrekord von 930 Neuinfektionen. Zuviele der Covid-19-Tests sind positiv, so dass die Epidemiologen die Infektionsherde nicht mehr ausfindig machen können. Inzwischen übertrifft die lettische Infektionsrate die deutsche: Nach aktueller Länderliste des SPKC verzeichnete man in Deutschland innerhalb der letzten zwei Wochen 301,9 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner, in Lettland 395,1 (spkc.gov.lv). Für Reisende ist es sinnlos, diese Liste noch anzuklicken: Überall in Europa sind die Infektionsraten über dem Limit. Jedes Land, vom Vatikan abgesehen, ist Risikogebiet. Ähnlich wie in Deutschland verkündete die Regierung im Oktober einen sanften Lockdown, der übrigens gleichfalls offiziell “Arkatas situacija” genannt wird. Die Masken sind wieder da und die Menschen dürfen sich nicht mehr in Gruppen versammeln. Doch die Epidemiologen verkünden weiterhin steigende Zahlen.
Ebenso wie in Krankenhäusern sind Ausbrüche in den Altenheimen besonders problematisch, weil sich neben einer Risikogruppe auch das Personal infiziert. Im Senioren-Pensionat von Krustpils wurden 130 von 250 Bewohnerinnen und Bewohner positiv getestet (lsm.lv). 50 Angestellte, mehr als die Hälfte des Personals, befindet sich in Quarantäne. Jetzt herrscht akuter Pflegenotstand, die Mitarbeiter der Verwaltung müssen nun bei der Versorgung und Betreuung der Senioren aushelfen. Die Heimleitung sucht Aushilfskräfte, den verbliebenen Angestellten wurden die freien Tage gestrichen.
Auch die Diskussionen um Corona gleichen sich in verschiedenen Ländern. Während den einen die Beschränkungen längst nicht weit genug gehen und sie vor Überlastungen der Kliniken und Praxen warnen, halten andere die Maßnahmen für völlig überzogen und befürchten die ultimative Closing Time für Ladenbesitzer. Jede Seite hat ihre Argumente. Manche bekräftigen sie allerdings mit der Verbreitung von Falschmeldungen und geraten ins Visier der Fahnder.
Am 9. Dezember 2020 nahm die lettische Polizei zwei “Aktivisten” fest, weil sie auf Facebook Fake News verbreitet hätten. Einer von den beiden ist Valentins Jeremejevs, laut lettischer Wikipedia wurde er als erster lettischer Unternehmer bekannt, der in China produzieren ließ. Seit 2016 ist er Vorsitzender des Fonds der Wissenschaftlichen Akademie, der das Image dieser akademischen Institution fördern soll. LTV zeigte Ausschnitte aus einem Video, das er zusammen mit einer Sanitäterin aus der Rigaer Austruma Klinik produziert hat (lsm.lv). Sie will bezeugen, dass der Corona-Virus nicht existiere und spekuliert über merkwürdige tödliche Experimente, die die Ärzte mit Lungenpatienten anstellten, Statistiken seien gefälscht, die Überlastung der Kliniken ein Märchen. Nach Auskunft der Polizei sei das Video auf große Resonanz gestoßen. Mitarbeiter der Klinik erhielten danach Drohmails von aufgebrachten Internetnutzern.
Die Ermittler verdächtigen die beiden des Hooliganismus`, der die epidemiologische Sicherheit des Landes gefährde. Das kann zu einer Geldstrafe oder bis zu zwei Jahren Gefängnis führen. Innenminister Sandis Girgens kündigt ein scharfes Vorgehen an: “Wenn wir über Informationen im öffentlichen Raum sprechen, welche die staatliche und öffentliche Sicherheit gefährden oder Informationen verbreitet werden, die die öffentliche Gesundheit im wesentlichen Maß bedrohen, dann haben wir Mittel und wir werden dagegen vorgehen. Wir können jene Subjekte ermitteln, die zu ermitteln sind.” Girgens` Aussage lässt offen, ob auch die Verbreitung wahrer Informationen verfolgt wird, wenn diese nach Ansicht der Regierung die Sicherheit gefährden.
Am Wochenende dürfte für Polizisten wieder Arbeit anstehen. Zwei Demonstrationen gegen die Corona-Politik der Regierung sind angemeldet, eine am Samstagvormittag gegen den Lockdown, die zweite am Nachmittag gegen die zu geringe finanzielle Unterstützung von Unternehmern.
Ein Organisator des Protests gegen die Maskenpflicht ist Arvids Ulme, Präsident des Umweltschutzclubs (VAK), der schon seit sowjetischen Zeiten existiert (lsm.lv). Wie selbst ernannte deutsche “Querdenker” ist auch Ulme der Ansicht, dass offizielle Medien wie LTV grundsätzlich falsch informieren; er unterstellt den Journalisten, im Sinne der Regierung zu manipulieren: “Was denkt ihr, was hier passiert; und Journalisten, wer seid ihr? Ihr habt nur eine Tatsache, nur eine Meinung - das, was der Minister, die Koalition sagt. Mit Angst könnt ihr das Volk eine Weile auf die Knie zwingen, das macht ihr erfolgreich. Doch wisst, wenn der Damm brechen wird, dann seht was geschehen wird,” mit diesen Worten zitiert LTV den VAK-Vorsitzenden. Sein Club, der übrigens in den 80er Jahren den Bau der Rigaer Metro verhinderte, hat sich von dieser Stellungnahme distanziert.
Die Polizei bezweifelt, ob Maskengegner auf ihrer Demonstration die Maskenpflicht ernstnehmen werden. Zudem ist die Teilnehmerzahl auf 25 begrenzt. Die Ordnungshüter kündigten an, bei Verstößen hart durchzugreifen.
Ministerpräsident Krisjanis Karins sprach davon, dass sich die Bürgerinnen und Bürger gerade in der düstersten Phase befänden, nicht nur im Hinblick auf die Jahreszeit, sondern auch im Hinblick auf die Pandemie (lsm.lv). Er verglich die jetzige Situation mit der vor 100 Jahren, als sich die Vorfahren im Befreiungskrieg befanden: “Unser aller Verantwortung ist ebenso groß wie vor 100 Jahren, doch man muss nicht auf das Schlachtfeld hinaus, sondern zuhause bleiben und auf Vergnügliches verzichten.”
UB
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