Im Osten nichts Neues und doch etwas Anderes: Lettland wählt sein Parlament
07.10.2006
Und doch scheinen einige Voraussagen einigermaßen gesichert. Zum einem spricht vieles dafür, daß sich der Souverän mehrheitlich für Mitte-Rechts aussprechen wird, daß also in groben Zügen die bisherige politische Ausrichtung Lettland erhalten bleibt. Damit würde sich aber eine Konstante fortsetzen, die sich seit dem ersten Urnengang in der wiederhergestellten Republik herausgebildet hat. Schlägt das politische Pendel in den meisten anderen mittel- und osteuropäischen Reformstaaten in der Regel noch immer bei jedem Urnengang von einem Extrem ins andere aus, von konservativ nach sozialdemokratisch und wieder zurück, so hat es in Lettland bislang stets im rechten Lager gekreist.
Dort dann aber ziemlich erratisch, als hätten sich Herr und Frau WählerIn gesagt: "Die aktuellen Amtsinhaber haben genug geklaut, jetzt dürfen mal die anderen ran". Daß die jeweils Herrschenden in die eigene Tasche wirtschaften, durchstechen, die Hand aufhalten und andere korrumpieren, ist ein populärer Gemeinplatz, der sich auch in den jüngsten Meinungsumfragen deutliche Spuren hinterlassen hat.
Zumal die Presse in den letzten Monaten fleißig einen Skandal nach dem anderen aufgedeckt hat. So versuchten die Homosexuellen-Fresser von der Ersten Partei Lettlands (Latvijas Pirma partija ), sich mit Blick auf heißbegehrte Immobilien einen willfährigen Stadtrat im Badeort Jurmala zurechtzumauscheln; das kristallklare Neue Zeitalter (Jaunais laiks), die selbsternannte Partei der brutalstmöglichen Aufklärung und Transparenz, leistete sich schwarze Kassen in Rezekne, während U-Boote der Volkspartei (Tautas partija) als angeblich gemeinnütziger Verein die Limits für Wahlkampfausgaben umschwammen und die Werbetrommel für wen wohl rührten... Usw. Usf.
Aus einer Art fatalistischem Gerechtigkeitssinn heraus hat der und die gemeine lettische WählerIn bislang also in der Regel die gerade herrschende Rechtspartei abgestraft und dafür ein unverbrauchte, angeblich gnadenlos gegen alle Mißstände kämpfende Kraft aus demselben Spektrum mit dem Regieren beautragt.
Vertraut man nun den vorliegenden Umfrageergebnissen (die allerdings wegen der Unentschlossenen-Quote von etwa 21% auf etwas wackeligen Beinen stehen), dann könnte die Volkspartei unter Premier Aigars Kalvitis (letzte Prognose: 13,7%) diese Tradition brechen: zum ersten Mal in der erneuerten Republik würde dann eine Partei in Regierungsverantwortung den Urnengang siegreich überstehen und könnte damit erneut mit der Führung der Staatsgeschäfte betraut werden. Zusammen mit dem bisherigen Koalitionspartnern Bündnis der Grünen und Bauern (Zalo un Zemnieku savieniba, Prognose: 12,4%) und Erste Partei (Prognose: 6,8%) wäre zwar keine parlamentarische Mehrheit gegeben, doch ein Gravitationszentrum auch für andere, möglicherweise sogar linke Kräfte. Und über Erfahrungen in Behaupten einer Minderheitstregierung verfügt Aigars Kalvitis allemal.
Etwas anders sähe die Situation aus, sollten die Grünen und Bauern an ihm vorbeiziehen. Ihnen fiele dann das Erstrecht auf die Regierungsbildung zu. Und einen Kandidaten für das Amt des Premierminister haben sie auch schon. Der kandidiert zwar selbst nicht für das Parlament, heißt Aivars Lembergs, ist Bürgermeister der westlettischen Hafenstadt Ventspils und einer der vermögendsten Männer des Landes, legt sich auch schon mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung an, hat aber ansonsten die Generalstaatsanwaltschaft der Republik Lettland am Hals. Diese hat wiederum ein förmliches Strafverfahren gegen Aivars Lembergs eingeleitet und wirft ihm ungebührliche Verquickung von unternehmerischer Tätigkeit und öffentlichem Amt vor.
Zwar glauben viele Beobachter, daß der wackere Bürgermeister eigentlich gar nicht den Kabinettsvorsitz anstrebt und daß ihm in Wirklichkeit daran gelegen ist, die Ermittlungen durch politische Winkelzüge zu sabotieren, aber ein Hauch von Berlusconi liegt schon über dem lettischen Parlament, der Saeima. Auch die potentiellen Koalitionspartner zeigen wenig Neigung, sich dem Mann aus Ventspils unterzuordnen. Und schließlich ist da noch Staatspräsidentin Vaira Vike-Freiberga. Sie ist es ja, die den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen müßte, und sie hat bereits erkennen lassen, daß man wohl kaum jemanden mit dieser Aufgabe betrauen könne, gegen den Strafverfahren läuft. Nun gut - ihre eigene Amtszeit läuft 2007 unwiderruflich ab, insofern ist die Präsidentin ein wenig gehandicapt, aber sie genießt weiterhin eine Autorität, die über dieses Manko hinwegrettet.
Insofern dürfte man davon ausgehen, daß die neue Regierung Lettland in gewohnter Manier fortfahren wird, mit dem einen oder anderen nationalkonservativen Zungenschlag die bekannten Topoi des Reformkurses abzuarbeiten. Unter anderem steht der Anschluß an das Schengen-System auf der Tagesordnung, und die Wirtschaftsdaten lassen einem problemlosen Beitritt zur europäischen Gemeinschaftswährung wieder näher rücken.
Was sieht es aber auf der linken Seite des politischen Spektrum aus? Die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Lettlands (Latvijas Socialdemokratiska stradnieku partija) robbt sich langsam an die 5%-Hürde heran, liegt aber in den aktuellen Prognosen noch immer bei 3,9%. Ob das am Wahltag für einen Einzug in die Saeima reicht, ist noch ungewiß. Fast scheint es so, als könnten die Letten es ihren Roten Schützen, allesamt radikalisierten Sozialdemokraten, noch immer nicht verzeihen, daß sie seinerzeits Lenins Leibwache gestellt und die Konterrevolution niedergekämpft haben...
Vor diesem Problem stehen zwei andere Parteien nicht: Für Menschenrechte in einem geeinten Lettland (Par cilveku tiesibam vienota Latvija, PCTVL) und Saskanas centrs (Zentrum der Eintracht, SC) haben in den letzten Wochen bei den Umfragen ständig zugelegt und können in den letzten Prognosen 9,4, bzw. 8,9% verbuchen. In Unterschied zu den Sozialdemokraten, die sich im lettischen Bevölkerungsteil gegen rechte Parteien behaupten müssen, haben die als links geltenden Menschenrechtler und Eintrachtler unter den russischsprachigen Wahlberechtigten eine nahezu uneingeschränkte Hegemonie inne, wobei PCTVL eher die nationale und SC eher die soziale Frage akzentuiert. Beide Gruppierungen gelten für die meisten Letten aber als politische Schmuddelkinder, die Bereitschaft, sie in ein Koalitionsboot mit den "eigenen" Parteien zu nehmen, dürfte sich in engen Grenzen halten.
Durch diese Verquickung von "russisch" und "links" scheint in Lettland eine Politik jenseits von Mitte-Rechts auf absehbare Zeit keine parlamentarische Mehrheit zu finden, obgleich sie dringend erforderlich wäre, allein, um die drängenden sozialen Fragen zurück ins politische Bewußtsein zu holen. Ausbau und Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme wäre da nur eine davon.
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