Befehl 001223
21.06.2006
Bereits am 11. Oktober 1939, also fast zwei Jahre zuvor und in völliger Unkenntnis über deutsche Angriffspläne auf die Sowjetunion, unterschrieb ein Mitarbeiter des Kommissariats für Staatssicherheit der Sowjetunion den streng geheimen Befehl 001223. Darin enthalten: genaue Anweisungen zur Deportation antisowjetischer Kräfte im Baltikum, die Trennung der arbeitsfähigen Männer von ihren Familien und die Enteignung ihrer Güter.
Nicht nur Nazi Deutschland hatte also zu dieser Zeit eine menschenverachtende Todesmaschine in den Gang gesetzt, auch Stalin und seine Schergen planten von langer Hand perfide den Tod Tausender unschuldiger Menschen. Mit einem Unterschied, wie die lettische Politikerin und Historikerin Sandra Kalniete erst kürzlich noch einmal in der FAZ betonte: „Die Kommunisten machten sich nicht die Mühe alles genau zu dokumentieren.“ Insgesamt sollen laut dem Okkupations Museum Riga allein in Lettland 35 Tausend Menschen in der ersten sowjetischen Okkupation von 1940 bis 1941 der Tscheka zum Opfer gefallen sein.
Bei all der schwierigen Spurensuche bezüglich des Stalin Terrors im Baltikum, gibt es doch ein wichtiges Dokument, das zumindest die Ursache für diese baltische Tragödie erklären kann. Der Hitler-Stalin Pakt vom 23. August 1939. Dieser deutsch-russischen Nichtangriffspakt sah unter anderem vor, dass die baltischen Länder, sowie Finnland in den sowjetischen Machtbereich fallen. Mit diesem „Pakt der Teufel“, wollte sich Stalin endlich den strategisch wichtigen Zugang zur Ostsee sichern und zudem Zeit gegenüber den Nazis gewinnen. Unmittelbar nach der Unterzeichnung des Hitler-Stalin Paktes begannen die sowjetischen „Think tanks“ in Moskau mit ihren Planungen zur Annexion des Baltikums.
Im ersten Schritt erzwang Moskau ein Stationierungsabkommen mit den eingeschüchterten Regierungen in Talin und Riga und Vilnius im September bzw. Oktober 1939. Vergeblich hofften ihre Regierungen auf deutsche oder gar internationale Hilfe. Darauf folgte die interne Ausarbeitung der Besatzung durch den Befehl 001223. Die heiße Phase ließ nicht lange auf sich warten: Im Sommer 1940 erzwang Stalin Neuwahlen für die baltischen Parlamente, indem er bei Nichtbefolgung mit dem sofortigen Einmarsch der roten Armee drohte. In Lettland errang der „Block der Werktätigen“ das fabulöse Ergebnis von 97,8 Prozent, wobei die sowjetische Nachrichtenagentur „Tass“ versehentlich das Ergebnis vor Schließung der Wahllokale bekannt gab. Die Annexion endete schließlich mit der Proklamation der linientreuen Regierungen nun zur Sowjetunion gehören zu wollen. Am 17. Juli 1940 fahren sowjetische Panzer auf den Bahnhofsplatz von Riga vor. Nun wusste auch der letzte Lette, dass sein Land von der europäischen Landkarte verschwunden ist.
Zurück zur Gegenwart: Die erste Vertreterin Lettlands in der EU-Kommission, Sandra Kalniete, hatte mit ihrem Buch „Mit Ballschuhen in sibirischem Schnee“ anhand ihrer eigenen Familiengeschichte das Grauen des 14. Juni eindrucksvoll nachgezeichnet. Inzwischen ist der Band in den wichtigsten europäischen Sprachen erschienen, selbst in Russisch. Doch so richtig angekommen in Europa ist die dort verarbeitete historische Erfahrung noch nicht. Zu tief scheint sich der Holocaust als Verbrechen schlechthin in das kollektive Bewusstsein des alten Kontinents eingebrannt zu haben, als dass anderer totalitäre und menschenverachtende Schurkereien an Präsenz gewinnen könnten. Man muss da gar nicht an die sowjetischen Massendeportationen denken, der türkische Völkermord an den Armeniern ist ein recht ähnlicher Fall.
Vielleicht ist es dann auch bezeichnend, dass die Gedenktafel, die das Europarlament an die baltischen Verschleppungsopfer erinnern soll, ausgerechnet von deren Nachfahren gestiftet worden ist, den Abgeordneten Tunne Kelam (Estland), Aldis Kuskis (Lettland) und Vytautas Landsbergis (Litauen). Kaum minder symbolisch auch die Reaktion des Hohen Hauses: „direkt in den eigenen Räumen möchte man die Tafel nicht anbringen. Aber im Laufe der Zeit könne man sie in dem geplanten Europa-Museum in Brüssel unterbringen“ war in der Diena vom 15. Juni zu lesen. Wenn da bloß keine boshafte Zunge auf den Gedanken kommt, von Entsorgung zu sprechen...
-OJR–JvR-
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