Lettische Hochschulpolitik: Von Kritik auf Besserwessi-Niveau und von wahren Problemen
31.10.2009
Außerdem kritisierte der Wirtschaftswissenschaftler die geringe Zahl wissenschaftlicher Publikationen in englischer Sprache, insbesondere im sozialwissenschaftlichen Bereich. Er nannte als wichtigsten Qualitätsmaßstab die Zahl veröffentlichter Texte in internationalen Fachzeitschriften. Diese sei zu gering. Ein großer Teil der Sozialwissenschaftler verstehe Englisch nicht hinreichend gut. Falls plötzlich dennoch viele lettische Publikationen, beispielsweise aus der Wirtschaftswissenschaft, übersetzt würden, erlitten viele ausländische Leser einen Schock. Aber die lettische Sprache bewahre die Autoren vor der Blamage.
In eine ähnliche Kerbe schlug der Rektor der Lettischen Universität (LU), M?rcis Auzi?š, der sich am 30. September gegenüber der Nachrichtenagentur LETA über das schlechte internationale Rating lettischer Hochschulen beklagte. Das Rating der Zeitung The Times enthalte keine einzige baltische Hochschule und das angesehene Webometric führe aus Litauen und Estland gleich drei Hochschulen an, aus Lettland dagegen nur die LU.
"Ich möchte in Lettland studieren, nicht im (estnischen) Tartu oder in Petersburg". Dort studierten im 19. Jahrhundert die Letten, weil es in ihrem Heimatland noch keine Hochschule gab. Protestplakat in der Lettischen Kulturakademie. Foto: UB
Im weltweiten Maßstab belege seine Universität als beste lettische Hochschule etwa den 1000. Platz, Rigas Technische Universität lande auf den 2000. und die private Wirtschaftshochschule Turiba auf den 4000. Auzi?š hält solche Zahlen, die sich an Maßstäben aus dem angelsächsischen Raum orientieren, für objektiv, also unbezweifelbar, und verbindet damit eine weithin umstrittene Forderung: Er beabsichtigt, alle 20 staatlichen Universitäten und Hochschulen unter dem Dach der LU zu vereinigen. Zufälligerweise wäre Auzi?š der Chef dieser Mega-Hochschule. Dennoch versteht der Rektor die scharfen Reaktionen aus den anderen Hochschulen nicht und weist persönliche Ambitionen weit von sich.
Auch die Polizei zeigte ihr Interesse an den Aktionen. Foto: UB
Für diese ziemlich westlich anmutende Auffassung von Objektivität zählt nicht, dass lettische Dozenten meistens ausgezeichnet Russisch beherrschen. Das ermöglicht ihnen, Wissen über einen Kulturraum zu erwerben, der den Westlern wegen mangelnder Sprachkenntnisse verschlossen bleibt. Und für diese Art von Objektivität zählt auch nicht, dass im Zuge des Bologna-Prozesses die Diplome lettischer Hochschullehrer, die sie in lernintensiven Studiengängen während der Sowjetzeit erwarben, auf Bachelor-Niveau herabgestuft wurden. So mussten sie zusätzlich ein Masterstudium absolvieren, um weiter unterrichten zu dürfen - und das alles zu Gehältern, über die ein westlicher Facharbeiter spotten würde.
Alles in einen Sack? Hier sind es immerhin noch zwei. Foto: UB
Die Qualitätskritikaster übersehen offenbar das wichtigste Problem, mit dem sich lettische Bildungspolitiker konfrontiert sehen: Im nächsten Jahr wird die Regierung 40 Prozent weniger für die Bildung ausgeben. Davon betroffen ist u.a. die Zahl staatlich finanzierter Studienplätze. Studierende, die bessere Prüfungsergebnisse erzielen, bezahlen keine Studiengebühren, der Rest muss mindestens 750 Euro oder auch weit mehr pro Semester berappen. Dies hat den merkwürdigen Effekt, dass gerade jene vermehrt jobben, die eigentlich ihre Zeit für das Studium benötigen.
Inta Brikše, Leiterin des LU-Fachbereichs für Kommunikationswissenschaften bemängelt in ihrem Artikel auf www.politika.lv die Reformvorstellungen ihrer Kollegen und verbindet ihre Argumente mit Erfahrungen aus der alltäglichen Praxis. Beispielsweise seien die Ideen, Hochschulen zusammenzulegen, keineswegs neu. Bereits 1999 habe die damalige Regierung beabsichtigt, die Lettische Medizinische Akademie in die LU zu integrieren. Doch statt der Vereinigung erfolgte die Umwandlung der Akademie in die Stradi?a universit?te.
Die Studentinnen inszenieren ein Kultur-Event der Zukunft: Eine Modenschau mit Lumpen. Foto: UB
Die Ergebnisse hyperaktiver Reformwut erläutert die Autorin am Beispiel der Wissenschaftlichen Akademie, einer staatlichen Forschungseinrichtung ohne eigenen Lehrbetrieb: In den Jahren 1997 bis 1998 habe man ihre Institute in gemeinnützige Unternehmen verwandelt, auch solche, die nur über ein Grundkapital von 2370 Lats (3337 Euro) verfügten. Die nächste Änderung erfolgte 2004. Nun wurden sie in staatliche Gesellschaften mit beschränkter Haftung umorganisiert, doch an der Finanzierung und auch an der Qualität änderte sich nichts. Niemand habe den Mut, Mini-Institute zu vereinigen, weil jeder Institutsdirektor über seine Rechte wache. Überhaupt stemmten sich persönliche Netzwerke gegen eine Überprüfung ihrer Institutionen von außenstehenden Beobachtern.
Brikše beklagt, dass die meisten Angehörigen der wissenschaftlichen Institute die Hörsäle ihrer Hochschule nur betreten, wenn sie den Professorentitel erwerben wollten. Doch wenn sie diese Wissenschaftler auffordere, Unterricht anzubieten, antworteten sie, lieber Bücher schreiben zu wollen. "Man muss gestehen", so folgert die Lehrstuhlleiterin, "dass sich die eigene Karriere tatsächlich bequemer ohne Studenten gestalten lässt oder nur in der Zusammenarbeit mit Master- und Doktorstudenten, die für Forschungsarbeiten motiviert sind. Das sind gute Arbeitskräfte, um eigene Professorenprojekte zu verwirklichen."
Janis Rainis kann den Zustand der lettischen Kultur nicht länger ertragen und lässt sich widerstandslos verhüllen. Foto: UB
Ferner bemängelt die Hochschullehrerin die Akkreditierungen, also die Art, wie die Studienfächer ihre staatliche Zulassung erhalten. In den letzten Jahren habe es Nachfrage nach x-beliebigen Studiengängen gegeben, deren Qualität nicht hinreichend geprüft worden sei. Es blühten und gedeihten unterfinanzierte Fächer unter wechselndem Namen, die nicht wirklich innovativ seien.
Daher appelliert Brikše unter anderem, sich in der Öffentlichkeit nicht mehr zusammenhanglos auf internationale Erfahrungen zu berufen, die die reale Situation Lettlands ignorierten. Und statt ständiges Gürtelengerschnallen benötige man wirklich neue Lösungen, sonst werde zuletzt auch das Geld für eine einzige Universität fehlen.
Riga ist 2014 EU-Kulturhauptstadt. Da sind kostenlose kreative Ideen gefragt, zum Beispiel Kultur-Events in Lumpen. Foto: UB
Auch die Situation in den allgemeinbildenden Schulen bleibt unbefriedigend. Die Lehrer, die nach den jüngsten Sparrunden wieder mit Minigehältern abgespeist werden, erwägen Streiks.
zurück