Lettland spart an der staatlichen Gesundheitsversorgung - die Weltbank findet dies "exzellent"
04.05.2009
Zumindest den Sonnenschein gibt es in Lettland noch umsonst: April-Idylle am Stadtkanal in Riga. Foto: Udo Bongartz
Deutsche Welle TV zeigte am 29. April Bundeskanzlerin Angela Merkel am Pult vor Journalisten, um ihr neuestes Schweinegrippe-Statement zu vermelden. Die lettische Fahne im Hintergrund und der junge Herr an Frau Merkels Seite kümmerten die DW-Journalisten herzlich wenig. Nur der Lettland-Kenner bemerkte, dass es sich hier um die Pressekonferenz anlässlich des Besuchs von Ministerpräsident Dombrovskis in Berlin handelte. Ebenso wie sein Finanzminister Repše ist dieser derzeit als Bittsteller unterwegs. Die Kanzlerin sagte ihm die Unterstützung für sein Vorhaben zu, mehr Schulden zu machen, als es die ursprüngliche Vereinbarung mit dem IWF vorsieht. Deutschland hat im Fonds einen Stimmenanteil von sechs Prozent.
Derweil bitten die lettischen Fernsehjournalisten des LTV 1-Politmagazins De Facto ihre Zuschauer um Spenden für den schwer erkrankten Kollegen Ivo Kiršblats. Er muss im Ausland operiert werden. Dies kostet mehrere Tausend Euro (Kontonummer: LV18HABA000130A110940, Personen-Kennziffer: Ivo Kiršblats 081073-11367).
Dieser Hilferuf deutet nicht darauf hin, dass der lettische Staat seine Bürger medizinisch überversorgt, im Gegenteil: Nach der Unabhängigkeit 1991 hat die staatliche Medizin viele Aufgaben den Privaten überlassen. Die Journalistin L?sma Rozenfelde nennt Zahlen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf der Webseite der politischen Talksendung Kas notiek Latvij?: Demnach erhalten private Dienstleister 40 Prozent aller Gebühren, Beiträge und Zahlungen, die die Letten für ihre Gesundheit aufwenden müssen. 2005 erreichte der Anteil der staatlichen Medizin am Bruttoinlandprodukt noch 3,8 Prozent. Dies war der drittniedrigste Wert aller EU-Länder. Die WHO empfiehlt einen Anteil von sieben Prozent. (Zum Vergleich: Deutschland: 8,2 Prozent). Dagegen ist der Privatanteil mehr als doppelt so hoch wie im EU-Durchschnitt. Dies bedeutet: Lettische Patienten müssen eh schon einen höheren Beitrag aus eigener Tasche leisten. Zu den privaten Zahlungen und Zuzahlungen für Ärzte und für Medikamente kommen noch die inoffiziellen Gebühren, die viele Mediziner stillschweigend verlangen. Eigentlich bestünde Bedarf nach mehr staatlichem Engagement, nicht nach weniger.
Hinter diesen Türen werden "exzellente" Sparpläne
für Lettland geschmiedet: Regierungssitz in Riga. Foto: Udo Bongartz
Die Leiterin des staatlichen Rechnungshofs, Inguna Sudraba, bezweifelt jedoch, dass die Patienten verschont blieben und kritisierte den Minister: “Es ist absurd zu behaupten, dass die Gesundheitsversorgung auf dem bisherigen Niveau bleibt.”
Die Umstellung der osteuropäischen Planwirtschaft auf unrheinisch rüde Formen der Marktwirtschaft hatte tödliche Folgen. “Was passierte, als ehemals staatliche Unternehmen massenhaft privatisiert wurden? Antwort: Die Leute starben wie die Fliegen.” So pointiert fasste der WDR5-Journalist Uli Hufen unter dem Sende-Titel “Privatisieren und Sterben” die Ergebnisse britischer Wissenschaftler zusammen.
Im Januar 2009 publizierte das britische Medizin-Fachblatt Lancet die Studie “Mass privatisation and the post-communist mortality crisis: a cross-national analysis”. Darin untersuchten David Stuckler, Laurence King und Adam Coutts, warum nach Einführung der Marktwirtschaft die Lebenserwartung der Männer – im Unterschied zu den Frauen - beträchtlich sank. Sie fanden heraus, dass in jenen Ländern, die ihren Staat weitgehend privatisierten, die sozialen und gesundheitlichen Risiken anstiegen. Es entstand ein “Sterblichkeitsgürtel” zwischen Estland und der Ukraine, in welchem die durchschnittliche Lebenserwartung um bis zu sechs Jahren zurückging. Daraus lässt sich keine direkte Schlussfolgerung auf die Qualität der gesundheitlichen Versorgung ablesen. Doch es zeigt den Handlungsbedarf: Männer, die ihren Job in der Industrie verlieren und von wachsender Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt gestresst und überfordert sind, kompensieren ihren Abstieg mit riskanter Lebensweise: sie trinken, rauchen, rasen oder begehen schlicht Selbstmord. Männer ohne Perspektiven benötigen – ebenso wie ihre Frauen und Kinder - offensichtlich eine umfassendere medizinische und psychologische Betreuung, als Weltbank und der lettische Gesundheitsminister zugestehen wollen.
-Udo Bongartz-
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