Lettisches Centrum Münster e.V.

   

Lettland: Demonstranten kreiden die Verhaftung Neos an
14.05.2010


Auf dem Bürgersteig vor dem lettischen Regierungsgebäude

"Linda, überleg`es Dir!" empfiehlt diese Losung. Die Aufforderung gilt der lettischen Innenministerin, die die Inhaftierung Neos zu verantworten hat, Foto: UB

Ilm?rs Poik?ns ist `Neo`, ein für viele Letten vorbildlicher politischer Aktivist, der in letzter Zeit für so manche Schlagzeile gesorgt hat. Denn er verriet seinen Mitbürgern unter diesem Pseudonym die skandalös hohen Gehälter, die Angestellte in staatlichen und kommunalen Unternehmen auch in Krisenzeiten kassieren. Doch Neo nutzte dafür ein Datenleck der Steuerbehörde VID und geriet ins Visier der Fahnder. Polizisten haben Poik?ns am Abend des 11. Mai an seinem Arbeitsplatz in der Lettischen Universität, im Institut für Mathematik und Informatik, vorübergehend festgenommen. Außerdem durchsuchten die Ermittler die Wohnung der Fernsehjournalistin Ilze Nagla. Sie und ihr Team hatten als erste im LTV1-Politmagazin De facto über den Datenskandal berichtet. Neos Fans sehen nun Presse- und Informationsfreiheit in Gefahr. Innenministerin Linda M?rniece, die den Polizeieinsatz verantwortet, wertet den  Datenklau dagegen als einen schweren Gesetzesverstoß. Die Opposition fordert ihren Rücktritt.

Auf Twitter erfuhren die Letten in den letzten Monaten schwarz auf weiß, welche unverhältnismäßig hohen Gehälter öffentliche Arbeitgeber immer noch auszahlen. Während die Regierung Lehrern, Polizisten, dem medizinischen Personal und anderen staatlichen Angestellten die ohnehin dürftigen Einkommen weiter schmälert, wird so mancher Mitarbeiter in kommunalen Betrieben wie R?gas siltums, dem Fernwärmeversorger der Stadt, immer noch fürstlich entlohnt. Im Februar publizierte Neo die Gehaltslisten dieser städtischen Firma: 534 Arbeitnehmer erhielten 2009 monatlich ein vierstelliges Gehalt, zwölf von ihnen mehr als 3000 Lats. Das sind beträchtliche Summen in einem Land, in dem das Durchschnittseinkommen im letzten Jahr gerade mal 461 Lats (656 Euro) betrug, ein Viertel der Arbeitnehmer bezieht dagegen nur den Mindestlohn von 180 Lats (nach Steuern) oder bekommt noch weniger. (So die offizielle Statistik - das in Lettland weit verbreitete `Liechtenstein des kleinen Mannes`, die Schwarzarbeit, ist natürlich nicht erfasst).

Die Art der Datenermittlung erscheint fragwürdig, denn Neo nutzte ein Datenleck der Steuerbehörde. Aber seine Sympathisanten sind ihm dankbar. Auch in anderen öffentlichen Unternehmen, Stadtparlamenten und Behörden fand Poik?ns vergleichbare Zustände. Und selbst die Spitzenmanager der `systemrelevanten` Pleitebank Parex müssen in Krisenzeiten nicht darben: Ihr monatliches Gehalt beträgt 10.000 bis 12.000 Lats vor Steuern. Und Neo entlarvte die Behauptung, man habe das Parex-Salär allgemein um 37 Prozent gekürzt: Die Parex-Chefs verordneten sich selbst deutlich geringere Abzüge, dafür halbierten sie die Gehälter in den unteren Etagen.

Auch Senioren begrüßten die Proteste der Jüngeren

Die Demonstranten am Aufgang zum Regierungskabinett kreiden den Verantwortlichen Neos Inhaftierung an, Foto: UB.

 

Dienstag Abend betraten Polizisten das Institut für Mathematik und Informatik, verhafteten Poik?ns und beschlagnahmten seinen PC. Nach Angaben des Institutsleiters Andrejs Spektors blieben die Ordnungshüter etwa zwei Stunden, um Datensätze zu kopieren. Spektors beurteilt Poik?ns als hervorragenden Spezialisten, der im Labor für künstliche Intelligenz geforscht hat. Zur gleichen Zeit betraten Polizisten die Wohnung Ilze Naglas. Sie suchten dort nach kopierten VID-Daten. Die Ermittler wussten, dass die De facto-Journalistin Informationen von Poik?ns erhielt. Ihr Politmagazin hatte als erstes über den Datenskandal berichtet. Zunächst war von einer obskuren 4ATA (4-?s Atmodas Tautas armijas/ die Volksarmee des vierten Erwachens) die Rede, die angeblich von den Britischen Inseln aus operiere. Später wurde die Einzelperson Neo als Informationsquelle genannt. In der LTV1-Interview-Sendung 100. pants verdächtigte Polizeichef General Valdis Voins die Journalisten der Komplizenschaft: Die Gruppe 4ATA sei ihre Erfindung, Neo habe nicht in einer Gruppe agiert, aber Voins wollte Mitwisser nicht ausschließen.

Ilze Nagla auf der Kundgebung

Journalistin Ilze Nagla hatte drastische staatliche Reaktionen erwartet. Bereits in früheren Fällen zeigten sich die Behörden im Umgang mit unbequemen Journalisten wenig zimperlich, Foto: UB

 

Neo enttabuisierte die Frage nach gerechter Einkommensverteilung und entzauberte die “Über-Geld-spricht-man-nicht”-Mentalität, die so oft Debatten über unverhältnismäßig hohe Gehälter aus öffentlichen Diskursen verbannt. Andererseits heiligte sein Zweck fragwürdige Mittel. Diese hielt der zuständige Staatsanwalt für so illegal, dass er einen Haftbefehl befürwortete. Neo-Fans und -Gegner pochen nun beide auf das Recht: Die einen auf Presse- und Informationsfreiheit, die anderen auf den gesetzlichen Schutz persönlicher Daten.

Zur Mittagszeit des 13. Mai versammelten sich etwa 100 Menschen vor dem Gebäude des lettischen Regierungskabinetts, um gegen die Inhaftierung zu protestieren. Zahlreiche Kameras, Mikrofone und Notizblöcke erfassten das Geschehen. Eine Reihe blau uniformierter Polizisten sicherte den Eingang zum Regierungsgebäude. Der Datenrebell findet besonders bei jüngeren Letten Sympathisanten. Auch Ilze Nagla besuchte die Kundgebung. Am Abend entließ die Polizei Neo aus seiner Haftzelle.

Initiator Goljo Miti?s hatte dazu aufgerufen, Kreide mitzubringen, um die eigene Meinung auf dem Bürgersteig zu bekunden. “Freiheit für Neo”, “Im Staat gibt es ernsthaftere Vergehen, die man untersuchen muss”, “Lettland hat kluge und ehrenhafte Straftäter”, “Fangt die wahren Diebe” und “Lettland hat 100 kluge Köpfe, die die Millionäre jagen werden” so lauteten einige Losungen.

Derweil streiten sich die Parteien über das Vorgehen von Polizei und Staatsanwaltschaft. Die Tautas Partija (TP, Volkspartei), die seit dem Rückzug ihrer Minister opponiert, fordert den Rücktritt der zuständigen Innenministerin, Linda M?rniece. Für den TP-Fraktionsvorsitzenden Vents Armands Krauklis bedeuten Verhaftung und Hausdurchsuchung eine unverhältnismäßige Demonstration staatlicher Gewalt. Gegenüber der Tageszeitung Diena äußerte er am 13.5. die Ansicht, dass solche Maßnahmen in der zivilisierten Welt nicht geschähen. “Unserer Meinung nach ist Neo keine Person, gegen die man wie gegen Terroristen vorgehen muss.”

Gefährlicher dürfte für die Innenministerin die Kritik der mitregierenden Pilsonisk? savien?ba (PS, Bürgervereinigung) werden. Im selben Diena-Artikel meldete sich eine PS-Abgeordnete zu Wort, die früher als Verfassungsrichterin Recht sprach: Ilma ?ep?ne zweifelt, ob das staatliche Vorgehen gegen Neo und Nagla der Verfassung entspricht. Die Freiheit des Wortes umfasse auch die Pressefreiheit und die Juristin wies dabei auch auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hin. Dieser habe die besondere Bedeutung der Massenmedien mehrmals bestätigt und dabei auch das Recht der Journalisten festgestellt, ihre Informationsquellen zu schützen. Ähnlich äußerte sich die PS-Fraktionsvorsitzende Anna Seile.
Parolen für die Pressefreiheit
Der Bürgersteig als Tafel der Bürger-Gegenwehr, Foto: UB

Neo bringt die Partei des Regierungschefs Valdis Dombrovskis in eine unbequeme Lage. Jaunais laiks (JL, Neue Zeit) versteht sich als Antikorruptionspartei, die an transparenten Informationen interessiert sein müsste. Doch Linda M?rniece ist JL-Politikerin, eine entsprechende Gratwanderung unternahm ihre Parteifreundin Solvita ?bolti?a, die sich am 13.5. im Interview mit Latvijas Radio äußerte. Ihrer Ansicht nach bedeutet der Datenklau ein schweres Vergehen. “Wir wissen, dass manche Leute, indem sie illegale Methoden benutzen, so handeln können wie es Politikern versagt ist. Seit Jahren reden wir darüber, dass Informationen über Gehälter, die der Staat zahlt, öffentlich zugänglich sein müssen. Ich verstehe nicht, warum wir uns nicht an [den Basketballspieler] Andris Biedri?š erinnern. Als er in Amerika spielte, zahlte er Steuern, doch sogleich begann in Lettland jene Diskussion über seine Einkünfte – über die fehlende Steuererklärung, über die gesetzliche Steuerschätzung, dem setzte natürlich ein beträchtlicher Teil der Politiker einen ungewöhnlichen Widerstand entgegen, dass wir so etwas nicht dürften. Neo übermittelte der Gesellschaft Informationen, doch die Institutionen der Justiz werten dies als illegale Aktion. Wenn wir wollen und wenn wir begreifen, dass wir in einem Rechtsstaat leben, darf man nicht mit illegalen Methoden sein Ziel erreichen.”

Neo wird also weiterhin für Schlagzeilen sorgen. Nun erhält sein Fall eine neue Dimension. Ein spannender Widerstreit zwischen Pressefreiheit und Datensicherheit steht zur Debatte. Letztere war bislang kaum Thema, davon zeugt nicht zuletzt die schlampige Programmierung des VID-Servers, die den Datenklau erst ermöglichte. Ein prominenter Rechtsanwalt hat sich zu Neos Verteidigung bereit erklärt. Aleksejs Loskutovs, der ehemalige Chef der Antikorruptionsbehörde KNAB, wird ihn vor Gericht vertreten. Ob die Aktionen seines Mandanten widerrechtlich gewesen seien, müsse erst mal diskutiert werden, meint er.

Am 13. Mai verkündete die Tageszeitung Neatkar?g? R?ta Av?ze, dass Neo bis zu zehn Jahren Haft drohten. Filips Rajevskis glaubt, dass man mit solch drakonischen Strafen die Bürger einschüchtern wolle: “Ich bin von der Eile der Sicherheitsbehörden überrascht und darüber, welche Mittel sie einsetzten, um einen schwerer Verbrechen bezichtigten Menschen aufzuspüren!” spottet der Politologe und fügt hinzu: “Und das zu einer Zeit, in der so viele wirklich schwere Fälle unaufgedeckt bleiben!”

 

Weiterer LP-Artikel zum Thema:

Umfangreiches Daten-Leck in der lettischen Steuerbehörde VID

 

Externe Linkhinweise:

nra.lv: Neo draud pat 10 gadi cietum?

TVNET/LETA: lm?rs Poik?ns: Esmu Neo

diena.lv: papildin?ta - Policija: Neo ir aiztur?ts, v?las vi?a apcietin?šanu; krat?šanas sankcion?jis ar? tiesnesis




 
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