Lettisches Centrum Münster e.V.

   

Lettische Schlagzeilen im Zeichen des Mars
20.03.2010


Das lettische Freiheitsdenkmal befindet sich im Zentrum RigasDer Kampfmonat März, der seinen Namen vom römischen Kriegsgott `Mars` ableitet, gibt sich in europäischen Gefilden heutzutage recht zahm. Die Menschen ersehnen erstes Frühjahrsgrün herbei und hoffen, dass das Tauwetter an der Daugava ohne größere Überschwemmungen vonstatten geht. Sie verspüren wenig Lust, für Blechorden in den Kampf zu ziehen, um den alten Götzen eigenes oder fremdes Leben zu opfern. Allerdings treffen sich am 16. März Veteranen der SS-Legion und gedenken alljährlich Ereignissen, die vom Mars eher überschattet als überstrahlt wurden. In diesem Jahr ließen sich lettische Legionfans und russische Antifaschisten aber nicht von kriegerischen Mächten anstacheln und trugen ihre Debatten weitgehend demokratisch und friedlich aus. Also eigentlich keine besonderen Vorkommnisse im demokratischen lettischen Rechtsstaat, in dem der Bürger gegensätzliche Meinungen ertragen muss. Die internationale Berichterstattung über diesen zweifellos problematischen Gedenktag selbst ist ein Problem, über das gestritten werden müsste. Statt differenzierte Informationen blühen in manchen Artikeln die Stereotypen und Halbwahrheiten. Manche Tolle westeuropäischer und russischer Journalisten scheint auf Skandal gebürstet und sträubt sich anscheinend davor, sich mit der lettischen Geschichte ernsthaft zu beschäftigen. Doch der Leser findet im Internet auch sorgfältig recherchierte Gegenbeispiele. Kämpferisch gibt sich derzeit die lettische Tautas partija (TP), die nur ihrem Namen nach eine “Volkspartei” ist: Sie gilt eher als Partei des Geldes. Ihr Vorsitzender ist der Oligarch Andris Šķēle. Die TP-Abgeordneten müssen fürchten, nach den Parlamentswahlen im Herbst ihre Sitze zu verlieren. Es ist keineswegs sicher, ob die TP die Fünf-Prozent-Hürde überspringen wird. Am 17. März haben ihre vier Minister die Regierung verlassen. Premier Valdis Dombrovskis muss nun mit einem Minderheitskabinett weitermachen. Doch auch diese Meldung erscheint, das sei unjournalistisch zugegeben, aufsehenerregender als sie ist.
 
Zum lettischen Freiheitsdenkmal ziehen alljährlich am 16. März die lettischen Legionäre, Foto: UB

Der Unternehmerpolitiker Andris Šķēle übernahm vor einigen Monaten wieder selbst den Vorsitz seiner Partei, die um ihre Existenz kämpft. Parteifreund Aigars Kalvītis war in der Boomphase bis 2007 Regierungschef. Sein Kabinett verließ sich auf zweistellige Wachstumsraten. Es schienen rosige Zeiten, in denen die Gehälter kräftig anstiegen, dabei aber vom westlichen Lohnniveau weit entfernt blieben. Doch Kalvītis ignorierte die Anzeichen der Überhitzung: Der Immobilienmarkt trieb Spekulationsblasen und bescherte den Letten die höchste Inflation in der EU. Die wirtschaftliche Krise begann also hausgemacht, wurde aber durch das internationale Finanzchaos erheblich verschärft. Seit Februar 2009 befand sich Šķēles Partei als Juniorpartner in der Regierung des Ministerpräsidenten Valdis Dombrovskis`, der der Partei “Jaunais laiks/ Neue Zeit” angehört. Die vier TP-Minister, Außenminister Māris Riekstiņš, der Minister für Regionalentwicklung und kommunale Angelegenheiten, Edgars Zalāns, Justizminister Mareks Segliņš und Gesundheitsministerin Baiba Rozentāle mussten bislang die äußerst scharfe, mit dem Internationalen Währungsfonds vereinbarte Sparpolitik mittragen und mitverkünden. Insbesondere Rozentāle machte sich mit ihren Schließungs- und Kürzungsbeschlüssen ziemlich unbeliebt. Die Letten sollten inzwischen auf die Wirkungen ihrer zahlreichen Hausmittelchen vertrauen, denn professionelle medizinische Hilfe ist für viele unbezahlbar geworden.

Auf dem idyllischen Naturpfad im westlettischen Saldus

Wenn Politiker nicht für blühende Landschaften sorgen, muss es die Natur richten. Doch noch ist die lettische Landschaft von Restschnee bedeckt. Richtig grün wird es erst ab Ende April. Foto: UB

 

Am 11. März hatte die TP Dombrovskis einen 60-Punkte-Plan vorgelegt. Darunter ist durchaus Sympathisches zu finden wie beispielsweise die Aufhebung der Mehrwertsteuer für Medikamente. Šķēle konzentrierte sich auf vier Punkte, die angeblich ökonomisches Wachstum und politische Stabilität garantierten. Zwei von ihnen sind deutlich wirtschaftliberal: So wollte die TP die Mehrparteien-Koalition zwingen, auf Steuererhöhungen zu verzichten. Außerdem möchte Šķēles Unternehmerpartei noch mehr staatliche Aufgaben der Privatwirtschaft übertragen. Doch die TP-Vorschläge sehen auch eine neue Art von Mitbestimmung vor: Ein gesellschaftliches Abkommen soll bewirken, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer an der staatlichen Haushaltsplanung beteiligt werden. Schließlich will die TP die Zahl der Ministerien reduzieren. Für die Verwirklichung dieser Hauptpunkte hatte die TP Fristen festgelegt und erhielt vom Regierungschef und den Koalitionspartnern einen Korb. Vieles davon sei die Koalition im Begriff, gerade zu verwirklichen, der Rest nicht finanzierbar. Jaunais Laiks-Wirtschaftsminister Artis Kampars fragte sich beispielsweise, wie die TP bis 2014 einen Haushaltsüberschuss erwirtschaften wolle, ohne Renten, Sozialhilfe, Lehrer- und Polizistengehälter nochmals drastisch zu senken und die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung und die öffentliche Sicherheit noch weiter zu beschneiden.

Die Vorschläge der TP erscheinen machttaktisch als eine Sollbruchstelle, um sich wenige Monate vor den Saeima-Wahlen aus der ungeliebten Regierung zu verabschieden. Nun kann sich die Šķēle-Partei als Kritiker der Sparpolitik profilieren. Ob dieser Kurs die Partei rettet, bleibt offen. Schon Šķēles Rückkehr an die Parteispitze erbrachte keine besseren Werte in den Wählerumfragen. Für die Letten ist das Schicksal der TP das geringste Problem bei den existenziellen Sorgen, die ihnen die Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte beschert hat. Die Regierungen kommen und gehen hierzulande ähnlich häufig wie im Italien der Vor-Berlusconi-Zeit. Dombrovskis muss nicht befürchten, vor den Wahlen gestürzt zu werden. Ein lettischer Soziologe nannte den TP-Rückzug “eine schon seit langem erwartete Überraschung”. Šķēle hat viel Vertrauen eingebüßt, nachdem das Fernsehen 2006 dokumentierte, was er von Demokratie hält: Er beriet russische Geschäftsleute, wie sie in Jūrmala die Bürgermeisterwahl beeinflussen sollen. 

 

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Alle Jahre wieder: Wirbel um lettische Legionäre

Derweil hielten SS-Legionäre und Antifaschisten am 16. März wieder die Polizei in Atem. Doch abgesehen von einer Handvoll Festnahmen blieb es weitgehend friedlich. Die verfeindeten Gruppen tauschten die üblichen Parolen aus und wieder produzierte die internationale Presse reißerische Schlagzeilen wie “SS-Veteranen marschieren durch Riga” (www.20min.ch vom 17.3.10). Doch einige Journalistinnen schauten genauer und folglich differenzierter hin. Ihre Artikel seien an dieser Stelle empfohlen: So fragte diesmal die WDR-Journalistin Birgit Johannsmeier die Beteiligten selbst, warum sie ihres Kampfes in der Legion gedenken. taz-Journalistin Anita Kugler schrieb 2008 darüber, wie politische Randgruppen einen ehemals stillen Gedenktag propagandistisch ausschlachten. Und Nadja Cornelius bat ein Jahr zuvor Margers Vestermanis, Historiker, KZ-Überlebender und Leiter des jüdischen Museums in Riga, um eine Stellungnahme.

 
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