Lettland: Russisch-ukrainischer Konflikt bewirkt weiterhin viel innenpolitische Aufregung
26.03.2014
Russlands Vorgehen in der Ukraine stimmt die Letten weiterhin nervös. Politiker, Journalisten und Bürger halten Putin für den Schuldigen. Finanzminister Andris Vilks sieht einen neuen Kalten Krieg schon als gegeben an. Transatlantiker Toms Baumanis prophezeit weitere magere Jahre für den lettischen Sozialstaat, weil nun das Geld in die Rüstung fließen müsse. Bürger, die der Deportierten vom 25.3.1949 gedenken, vergleichen Putin wahlweise mit Tschekisten oder mit Hitler. Differenziertere Stellungnahmen, die auch die Rolle des Westens hinterfragen, sind selten zu finden. Helmut Schmidt, der die westliche Aufregung für "gefährlich" hält und das russische Vorgehen auf der Krim "durchaus verständlich" findet, hätte in Lettland einen schweren Stand.
Lettische Armeeeinheit am Nationalfeiertag, Foto: LP
Schmerzliche Erinnerungen verursachen antirussische Skepsis
Etwa 42.000 lettische Einwohner, die Stalin als Kulaken oder Nationalisten, also als Feinde der Sowjetunion betrachtete, ließen Rotarmisten, Tschekisten und KP-Mitglieder (unter den Verfolgern befanden sich auch lettische Landsleute) vom 25. bis 28.3.1949 nach Sibirien deportieren. Ganze Familien – ein Viertel der Repressierten waren Kinder – wurden in Viehwaggons gesteckt und nach Omsk, Tomsk oder sogar bis an die pazifische Küste verfrachtet. Sie mussten in Kolchosen, Goldminen oder in der Holzindustrie arbeiten. Ihnen wurde gesagt, dass sie lebenslänglich verbannt seien. Etwa 12 Prozent der Deportierten starben fern der Heimat. Erst 1957 durften die Überlebenden nach Lettland zurückkehren, waren aber weiterhin Repressionen ausgesetzt. Das sowjetische Unrecht wurde für die Letten zum Trauma. In der Sowjetzeit durften die Betroffenen nicht offen über ihre Schicksale reden. Die unbewältigte Vergangenheit bestimmt bis heute das Verhältnis zu Russland. Letten misstrauen dem russischen Phantomschmerz über verlorene Größe und halten dem immer noch übergroßen Nachbarn vor, Stalins Okkupation der baltischen Länder nicht einzugestehen, das damals aufgezwungene bolschewistische Gewaltregime zu verharmlosen. Eine lettische Journalistin verglich ihr Land einmal mit einem Hündchen, das aus Angst vor der großen Dogge in der Nachbarschaft ziemlich laut und aggressiv kläfft. Dies ist auch in der aktuellen Situation zu beobachten. Aija Kinca interviewte für die Nachrichtensendung Panor?ma vom 25.3.2014 ältere Demonstranten am Okkupationsmuseum in Riga. Viele von ihnen waren als Kind selbst Opfer der Deportation geworden. Nun erinnern sie mit Blumen und lettischen Fahnen an das begangene Unrecht. Für Russland und Putin finden sie nur bittere Worte. "Ein zweiter Hitler – er begann mit dem Sudetenland", meint einer, "Mich erinnert das alles stark an das, was in Deutschland geschah. So wie Russland von Georgien nahm, so nimmt es nun von der Ukraine," ein anderer. Der Vorsitzende des Repressiertenverbandes, Gun?rs Resnais, fordert Verteidigungsbereitschaft und misstraut den russischstämmigen Mitbürgern: „Wir selbst müssen bereit sein, uns zu verteidigen. Denn in Europa kocht jedes Land sein eigenes Süppchen. Das zweite Problem – wir haben sehr viele Fremdstämmige, die Lettland nicht wohlwollend gesinnt sind. Und das ist für Putin Grund genug, irgendwo die Macht an sich zu reißen.“
Lettische Militärfahrzeuge in der Parade zum 18.11., Foto: LP
Aufrüstung als Argument für weitere Sparrunden
Lettische Politiker folgen im Vorwahlkampf weitgehend Volkes Stimme. Finanzminister Andris Vilks, Vienot?ba-Politiker, sagte in einem Interview mit der Sendung R?ta Panor?ma, man sei wegen des russischen Vorgehens wieder in der Situation des Kalten Krieges, wie in den 70er oder 80er Jahren. Und er warnt vor noch weiteren historischen Rückschritten: „Wir haben Sorge, dass Russland in Wahrheit in die Situation der vierziger Jahre zurückgekehrt ist. Das müssen alle wissen, auch die Unternehmer.“ Und Vilks, der scharfe Befürworter der Austeritätspolitik, ist bereit, eine zukünftige Aufrüstung zu finanzieren: „Eine kluge, überlegte Zusammenarbeit der baltischen Länder mit leider wachsenden Verteidigungsausgaben. Ich wünschte es für andere Bereiche auszugeben, doch leider ist es für die Bewaffnung nötig.“ Toms Baumanis, Vertreter von Lettlands Transatlantischer Organisation, also ein Lobbyist für us-amerikanisch-lettische Beziehungen, teilt diese Auffassung. Mehrere Online-Redaktionen verbreiteten am 26.3.2014 seinen Aufsatz „Die Aufteilung der Ukraine – Eine Lehrstunde für Lettlands Sicherheit“. Auch er wirft Putin die Rückkehr zum Kalten Krieg vor und fordert entsprechende Reaktionen, vor allem Verteidigungsbereitschaft. Er prognostiziert wirtschaftliche Einbrüche, weil Lettlands Exportwaren zu 15 Prozent nach Russland transportiert werden. Bedeutender noch ist die hundertprozentige Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen. Dass man die Öffnung des Gasmarkts verschoben habe, sei ein Werk von Lobbyisten, meint Baumanis. Er prophezeit Kürzungen in jenen Bereichen, die seit der Finanzkrise ohnehin erheblich geschröpft wurden: „Wenn die geplanten Budgeteinnahmen ausbleiben, wird die Regierung nicht umhinkommen, die Ausgaben für Soziales, Bildung und Gesundheit zu kürzen. Auf dem Haushalt für 2015 liegt die zu erfüllende Bürde, die Ausgaben für die Verteidigung zu erhöhen.“ Er glaubt, dass man „im Bereich der sozialen Sicherheit für die Stabilisierung der lettischen Gesellschaft keine riesigen Anstrengungen“ aufwenden müsse. „Angemessene“ Lehrergehälter und das Unterrichtsprogramm in Minderheitenschulen könne man mit EU-Mitteln sicherstellen. „Es darf nicht zugelassen werden, dass man im Unterrichtsprozess das ideologische Material Russlands verwendet.“ Baumanis hat noch eine Reihe weiterer Verschärfungen, Beschränkungen und Verbote auf Lager. Dabei bekennt er selbst mit Bedauern: „Leider sind wir ihm viel zu nahe, um von Russland als Feind ausgemacht zu werden.“
Weitere LP-Artikel zum Thema:
Lettland: Wenn das geöffnete Fenster als Thermostat dient - AHK fördert die Energieeffizienz
Lettland: Mehr Nato willkommen
Außenminister Steinmeier in Lettland
Lettland: US-Militärfrachter lieferte Kriegsgerät nach Riga
Lettland: Parlamentarier beschließen höheren Wehretat
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz weist die lettische Abgeordnete Tatjana Ždanoka zurecht
Lettland: Die Krim-Krise wird zum innenpolitischen Thema
Lettland: Rentner kündigen Proteste an und warnen vor einem "lettischen Maidan"
Externe Linkhinweise:
ir.lv: Ukrainas sadal?šana - Latvijas droš?bas m?c?bstunda
lsm.lv: Politiski repres?tie baž?jas par m?sdienu Krievijas politiku
lsm.lv: Vilks: Esam atgriezušies aukst? kara apst?k?os; ekonomisk?s sankcijas maz ticamas
zurück