Lettland: Jahresrückblick 2017, Teil 2
30.12.2017
Das Erinnern bestimmt die Zukunft
Der Sozialpsychologe Harald Welzer erläuterte 2010 auf einer Podiumsdiskussion im Rigaer Goethe-Institut die Psychologie des Erinnerns: Der Mensch erinnert sich nicht objektiv, sondern derart, dass es ihm gelingt, mit dem Erinnerten Gegenwart und Zukunft zu meistern (LP: hier). Das, was daran hindert, verdrängt oder verzerrt er. Das was ihm für sein Selbstbild nützt, aber nur auf Bildern gesehen oder aus Erzähltem gehört hat, hält er für persönlich Erlebtes. Auch die kollektive Erinnerung ist subjektiv. Die Erinnerungskultur der Letten war in den letzten Jahrzehnten davon geprägt, die Zeit der Sowjetunion zu bewältigen. Inzwischen entsteht Raum für Erinnerungen an Ereignisse, bei denen Letten nicht Helden oder Opfer, sondern Mittäter waren. Am 30. November trafen sich mehrere hundert Letten am Nationaldenkmal, um den Holocaustopfern unter deutscher Besatzung zu gedenken. So wird die Sicht auf die eigene Historie vielfältiger. Das passt zur Entwicklung einer offenen Gesellschaft, wie sie sich Staatspräsident Raimonds Vejonis wünscht.
Am lettischen Holocaust-Gedenktag am 4. Juli waren Vertreter des deutsch-österreichisch-tschechischen Riga-Komitees in die lettische Hauptstadt gekommen. Diese Vereinigung vertritt 56 Städte, aus denen jüdische Bürger nach Riga deportiert worden waren. Sie nahmen u.a. an einer Gedenkveranstaltung auf dem Gelände der zerstörten Synagoge an der Gogloa iela teil. Foto: Reinis Ink?ns, Saeimas Administr?cija
Juli
Die Karl-Gotthard-Grass-Ausstellung in der Nationalbibliothek, Foto: LP
Anfang des Monats begannen etwa 600 lettische Hausärzte, die vor allem die Landbevölkerung medizinisch versorgen, einen unbefristeten Streik (LP: hier). Der lettische Staat leistet sich eine mangelhafte Gesundheitsversorgung und wurde dafür von der EU-Kommission schon kritisiert. Zwar sieht die Regierung von Maris Kucinskis Budgeterhöhungen vor, doch nach wie vor liegen die Aufwendungen weit unter dem EU-Durchschnitt. Die Hausärzte, deren Dienstleistungen vom Hausbesuch bis zur Frühdiagnose vom Gesundheitsministerium bezahlt werden, beklagen zu geringe Tarife, die nicht einmal die Kosten decken. Doch die Streikfront bröckelte bald wieder, weil die Ärzte fürchteten, von staatlichen Stellen verschärft kontrolliert oder von der staatlichen Finanzierung ausgeschlossen zu werden. Danach hat der Lettische Verband der Familienärzte zu einer Art Bummelstreik aufgerufen, der aus den Schlagzeilen weitgehend verschwunden ist. +++ Von Juli bis September war eine Ausstellung in der Nationalbibliothek dem vergessenen Deutschbalten Karl Gotthard Grass gewidmet (LP: hier). Er wurde 1767 im livländischen Dzerbene (deutschbaltisch: Serben) geboren. Liebesenttäuschungen, sein romantischer Drang in die Ferne und künstlerische Neigungen veranlassten ihn, den vorgesehenen Lebensweg als Pfarrer zu verlassen und bis zum ersehnten Ziel Sizilien zu reisen. Er lebte lange Jahre als Dichter und Maler in der Fremde, lernte prominente Künstler seiner Zeit kennen und starb schließlich in Rom.
August
Die Lettische Nationalbibliothek in Riga, Foto: CC BY-SA 3.0, Saite
Laut einer Meldung des privaten TV-Senders LNT plant der deutsche Lebensmitteldiscounter Lidl, an der Dzelzavas Straße 75b in Riga seine erste lettische Filiale zu eröffnen (LP: hier). Doch über die Nutzung des Grundstücks wurde debattiert und dagegen protestiert, weil Bäume einem Parkplatz weichen sollen. Der Ausschuss des Rigaer Stadtrats, der für Grünflächen zuständig ist, hatte die Abholzung schon genehmigt. Doch nach Einsprüchen von Bürgern stoppte Rigas Bürgermeister Nils Usakovs diesen Beschluss Mitte Dezember. Die Eröffnung des ersten Lidl-Latvija-Geschäfts könnte sich also verzögern. Im Nachbarland Litauen ist der Discounter bereits aktiv. Lettische Medien berichten über Preisvergleiche der Kundin Ieva, die "schockiert" darüber sei, dass der deutsche Konzern Ware in seinen litauischen Filialen viel günstiger anbiete als lettische Supermärkte. Hier erweist sich das wirtschaftliche Wohl und Wehe: Einerseits ist es recht verständlich, dass lettische Kunden, deren Kaufkraft deutlich geringer ist als diejenige anderer Europäer, zukünftig den günstigeren Discounter wählen werden. Andererseits fürchten lettische Lieferanten um ihre Aufträge, denn Experten prognostizieren, dass sie nicht die großen Mengen liefern können, die der deutsche Konzern benötigt. +++ Am 15. August starb Gunnars Bikerts (LP: hier). Der Exillette wurde 1925 in Riga geboren und hatte in Stuttgart Architektur studiert. Dann emigrierte er in die USA, wo er viele Aufträge für öffentliche Bauten erhielt: So entstand eine Vielzahl von Museen, Schulen, Verwaltungsgebäuden, Kirchen, Bibliotheken, Stadthallen, Botschaften und weiteren Bauten. Er ist der Architekt der Lettischen Nationalbibliothek in Riga, die 2014 eröffnet wurde, ein Gebäude mit unverwechselbarer Silhouette.
September
Die Petrikirche in Riga mit ihrem markanten Turm, dahinter der Dom, Foto: By User:Moralist - Paša darbs, Neaizsarg?ts darbs, Saite
Wer besitzt die Rigaer Petrikirche? Das ist eine offene Frage für den lettischen Gesetzgeber. Die Nationalkonservativen, die an der lettischen Regierung beteiligt sind, hatten im Frühjahr geplant, das Gotteshaus, in dem einst Luther-Anhänger Andreas Knöpken predigte, Lettlands Lutherischen Evangelischen Kirche zu übereignen. Diese gilt als derart konservativ, dass man sie in mancher Hinsicht als Gesinnungsgefährten der Nationalen Allianz einschätzen darf. Doch dagegen regte sich Widerstand beim liberaleren Koalitionspartner. Seitdem ist geplant, dass auch die Deutsche Evangelische Lutherische Kirche in Lettland Miteigentümerin werden soll (LP: hier). Lettische Medien vermuteten, dass dies eine Vereinigung der deutschen und lettischen Lutheraner bedeuten könnte. Doch dies wird von deutscher Seite strikt zurückgewiesen. +++ Eine entspannungspolitische Vision für Europa ist derzeit fehl am Platz. Statt dessen wird mediale Hysterie geschürt, die selbst der Nato-Botschafter Indulis Berzins im September beklagte (LP: hier). Baltische Medien spekulierten über russische Eroberungsgelüste, als russische und weißrussische Soldaten sich im Großmanöver Sapad erprobten. Berzins erinnerte daran, dass dieses Manöver lediglich der Verteidigung diene.
Oktober
Auf lettischen Straßenschildern wurde nach der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit das Russische getilgt, die Letten hatten die sowjetische Phase als Zeit der Russifizierung erlebt, in der die eigene Sprache entwertet wurde, Foto: A. Kuzmins auf Wikimedia Commons, CC BY-SA 2.5
Sozialminister Janis Reirs wies im Oktober die Öffentlichkeit darauf hin, dass sich die Verhältnisse in lettischen Kinderheimen seit der Unabhängigkeit entscheidend verbessert hätten, dies sei eine Feststellung internationaler Experten. Reirs reagierte damit auf Medienberichte, die zeigten, wie Kinder im Heim von Jelgava misshandelt worden waren (LP: hier). Nun debattiert die Öffentlichkeit darüber, ob die Zustände dort ein Einzelfall waren oder repräsentativ für weitere Einrichtungen stehen. Voraussichtlich werden Heime dieser Art in Zukunft geschlossen, weil Experten eine Unterbringung in Pflegefamilien für kindgerechter halten. +++ Bildungsminister Karlis Sadurskis stellte neue Pläne für die Minderheitenschulen seines Landes vor, die überwiegend von Russischsprachigen besucht werden (LP: hier). Sadurskis will mit gesetzlichen Vorschriften den Gebrauch des Russischen weiter zurückdrängen. Vertreter der russischsprachigen Minderheit kündigen neue Proteste an. Sie demonstrierten bereits 2004 gegen Sadurskis: Damals schon hatte er im selben Amt den Gebrauch des Russischen an den Minderheitenschulen stark eingeschränkt.
November
Gedenkanlage in Rumbula, Foto: Avi1111 dr. avishai teicher - Own work, CC BY-SA 3.0, Link
Im nächsten Jahr feiern die Letten den 100. Jahrestag ihrer Staatsgründung. 2018 wird ein Jahr mit vielen kulturellen Veranstaltungen. Am 18.11.2017 wurde Lettland 99 Jahre. Der Geburtstag der Republik ist der höchste nationale Feiertag, zugleich ein langer Arbeitstag für den Staatspräsidenten Raimonds Vejonis. Seine Rede am Nationaldenkmal wurde vom lettische Fernsehen live übertragen (LP: hier). Vejonis skizzierte, wie sich Lettland in den nächsten hundert Jahren entwickeln sollte: Ein weltoffenes Land, das sich an der Gestaltung Europas beteiligt. Sein Wunsch allerdings, dass sich Lettland vom Nehmer- in ein Geberland der EU transformieren möge, dürfte unter den gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Bedingungen innerhalb Europas nur schwer zu erreichen sein. +++ „Es kommt die Jugend. Sie ist unsere einzige Hoffnung und unser einziger Trost – es sind Menschen, eine Generation, die sich erinnern wird,“ sagt Margers Vestermanis, Historiker und Überlebender des Rigaer KZ Kaiserwald (LP: hier). Am 30. November und 8. Dezember 1941 hatten die deutschen Besatzer und ihre lettischen Helfer etwa 25.000 jüdische Bewohner des Rigaer Ghettos im Wald von Rumbula erschossen. In der sowjetischen Zeit war die Erinnerung an den Holocaust nicht erwünscht. Der Gedenkstein von Rumbula, den die jüdische Gemeinde in den 60er Jahren aufstellte, war der einzige, der auf sowjetischem Territorium an die jüdischen Opfer erinnerte. Inzwischen erinnern sich mehr und mehr Letten und versammeln sich am 30. November, dem "Rigaer Blutsonntag", um ihrer ermordeten Mitbürger zu gedenken.
Dezember
Burg Groß-Roop, Foto: CC BY-SA 3.0, Saite
Noch Anfang des Monats konnten sich die evangelische Gemeindemitglieder von Carnikava auf die baldige Wiedereröffnung ihrer Kirche freuen: Eine schmucke weiße Kirche, der ältesten aus Holz gebauten Kirche in Vidzeme, die fast zehn Jahre lang saniert worden war. Doch die Vorfreude wich am zweiten Advent dem Schock: Die Gläubigen standen vor den rauchenden Ruinen, ihr Gotteshaus war über Nacht ausgebrannt (LP: hier). Doch die Gemeinde will nicht aufgeben, sie beseitigte die verkohlten Überreste und hat eine Spendenaktion zum Wiederaufbau gestartet. +++ Auf der Straße zwischen Riga und dem nordlettischen Valmiera fängt die Burg Groß-Roop, lettisch Lielstraupe, die Blicke ein: Ein ockerfarbenes, verwinkeltes Gemäuer, in dessen Mitte sich ein barocker Turm erhebt. Das feudale Anwesen ist umgeben von einem Teich und einer Parklandschaft, in der exotische Bäume wachsen. Seit den sechziger Jahren beherbergte die Burg eine Heilstätte für Alkoholiker. Diese wird zum Jahresende geschlossen. Das Gebäude ist baufällig, muss saniert werden. Noch ist die zukünftige Nutzung nicht geklärt (LP: hier). So steht Groß-Roop exemplarisch für die ungewisse Zukunft, die Risiken, aber auch Chancen bietet. Den Leserinnen und Lesern der Lettischen Presseschau alles Gute für 2018.
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