Koalition wichtiger als europäische Werte
Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit zog Lettland den Unmut von Menschenrechtlern auf sich. Der lettische Gesetzgeber schloss Immigranten von der Staatsbürgerschaft aus, die nach der sowjetischen Besatzung 1940 ins Land gekommen waren und keine lettischen Vorfahren nachweisen konnten. Das machte über ein Drittel der lettischen Bevölkerung zu sogenannten `Nichtbürgern`. Diese haben zwar ein lebenslanges Aufenthaltsrecht, dürfen aber nicht an Wahlen teilnehmen und bestimmte Berufe im Staatsdienst nicht ausüben und weitere Nachteile. Seitdem hat sich vieles geändert. Die Gesetzgebung wurde liberalisiert und mit einem lettischen Sprachnachweis können die meistens russischstämmigen Nichtbürger inzwischen die lettische Staatsbürgerschaft erhalten. Einst betrug die Zahl der Nichtbürger etwa 700.000. Sie ist auf weniger als 250.000 gesunken. Die Zahl wird sich weiter verringern, da nach den Gesetzesnovellen der letzten Jahre auch die Kinder von Nichtbürgern den lettischen Pass erhalten können – falls die Eltern diesem zustimmen. Staatspräsident Raimonds Vejonis brachte am 21. September 2017 eine Gesetzesinitiative in die Saeima ein, die die automatische Zuteilung der Staatsbürgerschaft für Kinder bezweckte, auch wenn die Eltern sich dagegen aussprechen (president.lv). Doch dieses Vorhaben scheiterte am Einspruch der Nationalen Allianz.
Ein Auslaufmodell: Der lettische Nichtbürgerpass, Foto: Neaizsarg?ts darbs, Saite
Koalitionsvertrag verhinderte absolute Mehrheit
Nach dem Plan des Präsidenten sollten ab dem 1. Juni 2018 alle Neugeborenen von Nichtbürgern die lettische Staatsbürgerschaft erhalten. Lettland sei der einzige Staat in Europa, in dem noch Nichtbürger geboren werden. Lettland sei ein moderner, demokratischer Staat Europas und man müsse alle Mühen darauf verwenden, ihn zu stärken und weiter zu entwickeln. Vejonis` Gesetzesvorschlag bezieht sich auf wenige Fälle. 2016 wurden nur 52 Neugeborene Nichtbürger, weil ihre Eltern der lettischen Staatsbürgerschaft nicht zustimmten und ihre Kinder lieber staatenlos ließen. „Den Nichtbürgerstatus` abzuschaffen ist ein symbolischer Schritt, der es ermöglicht, die Abwehrhaltung und zielgerichtete Spaltung gewisser gesellschaftlicher Gruppen Lettlands zu unterbinden. Die Abschaffung des Nichtbürgerstatus` ermöglicht unserer Gesellschaft im viel größeren Maß, sich zusammenzuschließen und ihre Kräfte auf die Entwicklung unseres Landes zu konzentrieren.“ Das Vorhaben des Staatsoberhaupts hätte wahrscheinlich die Zustimmung der Parlamentarier gefunden. Die Abgeordneten der oppositionellen Saskana, die als Vertreterin der Russischstämmigen gilt, stimmten ebenso dafür wie die kleineren, lettisch orientierten Parteien Vom Herzen für Lettland und Bündnis der Regionen. Auch vier Abgeordnete der Regierungspartei Vienotiba stimmten dafür, sie bilden die linksliberale Gruppe „Kustiba Par!“: Ints Dalderis, Lolita Cigane, Andrejs Judins und Aleksejs Loskutovs. Doch ihre Fraktionskollegen und die Abgeordneten der beiden anderen Koalitionsparteien stimmten dagegen oder enthielten sich: Mit nur 39 Ja-Stimmen, 38 Nein-Stimmen und 14 Enthaltungen verfehlte der Entwurf die absolute Mehrheit.
Vienotiba-Abgeordnete Lolita Cigane gehörte zu der Minderheit in ihrer Fraktion, die Vejonis` Gesetzesinitiative unterstützte, Foto: Saeima - 10.Saeimas deput?te Lolita ?ig?ne, CC BY-SA 2.0, Saite
Vienotiba als Verliererin
Politiker der mitregierenden Nationalen Allianz, ein Parteienbündnis, das in mancher Hinsicht mit der deutschen AfD vergleichbar ist, hatten auf den Koalitionsvertrag gepocht (lsm.lv). Dieser sehe Einigkeit in Fragen vor, die die Staatsbürgerschaft betreffen. Eine solche Übereinstimmung sei in diesem Fall nicht gegeben. Rainis Dzintars, Mitvorsitzender des nationalkonservativen Parteienbündnisses, betrachtet die Zustimmung zum Gesetzesvorhaben als Verletzung des Koalitionsvertrags. Die Nationale Allianz könne nicht zustimmen, solange es in Lettland kein einheitliches Schulsystem gebe. In Lettland existieren für Russischstämmige und andere ethnische Minderheiten eigenständige Schulen, Lettlands Rechte drängt auf deren Abschaffung. Ministerpräsident Maris Kucinskis nahm auf den Widerstand seiner nationalkonservativen Kabinettsmitglieder Rücksicht und erklärte eine eventuelle Zustimmung für indiskutabel. Seine Regierung sei stabil und er wolle keine Diskussionen beginnen, welche die Stabilität gefährden. Der Vienotiba-Vorsitzende Arvils Aseradens stimmte Kucinskis zu. Es habe keinen Sinn, mit Diskussionen zu beginnen, wenn ein Koalitionspartner blockiere. Für den Politologen Juris Rozenvalds ist die liberale Vienotiba die Verliererin in diesem Koalitionsringen: Sie habe gezeigt, dass ihr die Koalition wichtiger sei als europäische Werte (lsm.lv) . Der Staatspräsident bedauerte die Ablehnung: „Ich bin überzeugt, dass das Votum der Saeima die Annahme des Gesetzes nur um einige Zeit verzögert. In näherer oder fernerer Zukunft muss die Saeima die Abschaffung des Nichtbürgerstatus` für Neugeborene beschließen. Dieses sowjetische Erbe stört Lettland daran, als modernes und starkes Land voranzugehen.“ (president.lv).
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