Lettische Regierung will progressive Einkommenssteuer einführen
29.06.2017
Abschied von der „Flattax“
Die lettische Öffentlichkeit debattiert schon lange über das Steuersystem, das niedrige und mittlere Einkommen zu stark belastet. Finanzministerin Dana Reizniece-Ozola (Union der Grünen und Bauern, ZZS) machte Ende Februar u.a. den Vorschlag, die Einkommenssteuer von 23 auf 20 Prozent zu senken. Doch der Koalitionspartner Vienotiba wollte ihr Konzept nicht unterstützen, weil es kein zusätzliches Geld für die medizinische Versorgung vorsah. Der Staat zahlt für die Ausstattung der Krankenhäuser und für die Gehälter des medizinischen Personals zu wenig. Für die nächsten vier Jahre wird ein zusätzlicher Bedarf von 500 bis 600 Millionen Euro beziffert. Am 14.6.2017 verkündete die Regierung ihre Reformpläne für Steuern und Sozialabgaben: Sie bedeutet den Abschied von der sogenannten Flattax, dem Einheitssteuersatz, der Arme und Wohlhabende prozentual gleichermaßen belastet.
Die lettische Finanzministerin Dana Reizniece-Ozola in einer öffentlichen Diskussion mit EU-Kommissar Valdis Dombrovskis, Foto: fm.gov.lv
Entlastung für geringe und mittlere Einkommen
Die Regierung des Ministerpräsidenten Maris Kucinskis (ZZS) plant, was in der wirtschaftsliberal ausgerichteten lettischen Politik lange unvorstellbar war. Zukünftig sollen wohlhabendere Einkommensbezieher prozentual stärker belastet werden als ärmere. Lohnabhängige, die bis 20.000 Euro brutto im Jahr verdienen, sollen fortan nur noch 20 Prozent ihres Einkommens an das Finanzamt abgeben. Für Einkommen zwischen 20.000 und 55.000 Euro bleibt der Steuersatz bei 23 Prozent. Wer mehr verdient, soll ab dem nächsten Jahr 31 Prozent vom Mehrbetrag zahlen. Außerdem müssen lettische Lohnabhängige und ihre Arbeitgeber Sozialabgaben überweisen. Dem Beschäftigten werden dafür bislang weitere 10,5 Prozent vom Gehalt abgezogen, der Arbeitgeber muss zusätzlich 23,95 Prozent vom Bruttogehalt hinzuzahlen. Zukünftig werden die Beträge auf 11 bzw. 24,45 Prozent erhöht. Das zusätzliche ein Prozent für die Sozialkassen soll einer besseren medizinischen Versorgung zugute kommen. (Deren desolater Zustand wurde von der EU-Kommission kritisiert). Die nicht zu versteuernden Freibeträge werden angehoben: Bislang bleiben nur 60 Euro des Monatsgehalts unversteuert. Ab 2018 steigt dieser Betrag auf 200 Euro, bis 2020 auf 250 Euro. Der Mindestlohn wird von 380 auf 430 Euro erhöht. Für Besserverdienende, die im Jahr mehr als 48.600 Euro verdienen und keine Sozialabgaben zahlen müssen, entfällt die Solidaritätssteuer (lsm.lv). Diese hatte Kucinskis` Vorgängerin Laimdota Straujuma erst vor knapp zwei Jahren eingeführt. Kurz darauf trat Lettlands erste Frau im mächtigsten politischen Amt zurück. Ob Straujumas Ende mit den heftigen Protesten der Unternehmerverbände gegen ihre Steuerreform zusammenhing, blieb unklar. Die Vienotiba-Politikerin ließ ihren Rückzug damals unbegründet.
Die Statistik zeigt, dass die geplante Steuerreform für die Mehrheit der 850.511 lettischen Lohnabhängigen (mitgezählt sind 67.302 Erwerbslose) eine Entlastung bedeutet. Bis zu einem monatlichen Bruttoeinkommen von etwa 1666 Euro verringert sich der Steueranteil von derzeit 23 auf 20 Prozent, außerdem werden Sozialabgaben abgezogen.
Erwartbare Proteste der Unternehmerverbände
Auch diesmal protestieren die lettischen Unternehmerverbände. Sie klagen, dass die Regierung mit ihnen nur Steuersenkungen, nicht aber Steuererhöhungen vereinbart habe. Vertreter der lettischen Industrie- und Handelskammer (LTRK) werfen dem Kabinett Wortbruch vor. J?nis Endzi?š, LTRK-Vorsitzender, reagierte scharf. Er bezeichnete die Pläne der Koalition als „Windei“. Man sei nun weit entfernt von den ursprünglich vereinbarten Zielen. Man tue alles, um Unternehmer aus Lettland zu verscheuchen. Die LTRK kündigt auf ihrer Webseite an, die Steuerpläne nicht zu unterstützen. Ihrer Ansicht nach förderten diese die Schattenwirtschaft und verminderten die lettische Wettbewerbsfähigkeit. Der Fiskus solle zunächst sein Budget durchforsten, bevor er Steuern erhöhe. Letztlich seien weitere Emigration und weniger Konsum die Folge, was wiederum die wirtschaftliche Entwicklung bremse (chamber.lv). Endzi?š kündigte an, dass die Unternehmer die Öffentlichkeit über die Fehler der Regierung aufklären wollten, damit der Wähler entscheiden könne. Auch die EU-Kommission mischt sich ein (lsm.lv). Zwar begrüßt ihr Vertreter Manfred Bergmann, Direktor für die Abteilung „Indirekte Steuern und Steuerverwaltung“ bei der EU-Kommission, die Entlastung geringer Einkommen, doch er befürchtet, dass Lettland ab 2018 gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt verstoßen könne. Die EU befürchtet, dass das lettische Budgetdefizit auf 2,4 Prozent vom BIP ansteigt, erlaubt ist ein Minus von 1,7 Prozent. Finanzministerin Dana Reiziniece-Ozola (ZZS) hält die Pläne der Regierung dagegen für ausgewogen, von der EU-Kommission habe sie am 16.6.2017 nichts Neues gehört. Sie empfiehlt den Brüsselern, erst mal Hausaufgaben zu machen. Hauptsächlich diskutiere man mit den EU-Beamten darüber, wie die lettische Wirtschaft zu bewerten sei. Die EU-Kommission rechne mit Zahlen, die nicht der Realität entsprächen. Deren Methodologie, die schon seit mehreren Jahren angewendet werde, ergebe für eine kleine offene Volkswirtschaft, wie sie Lettland darstelle, außerordentlich unglaubwürdige Daten. Daher habe man im letzten Jahr mit der EU die Anwendung angemessenerer Methoden vereinbart. Nun warte man auf eine Aktualisierung der EU-Ergebnisse, bevor sich die lettische Regierung das nächste Budget vornehme.
Der Gini-Koeffizient beziffert die Einkommensungleichheit eines Landes, je höher der Wert, desto ungleicher ist die Einkommensverteilung. Lettland gehört zu den Ländern der EU, die die größte Ungleichheit aufweisen. In den letzten Jahren hat sich die Situation leicht verbessert. Die lettische Regierung erhöhte stufenweise den Mindestlohn und führte die Solidaritätssteuer für Besserverdiener ein. Mit einer progressiven Einkommenssteuer könnte Lettland weiter ins Mittelfeld aufsteigen. Doch mit der Einkommenssteuer bearbeitet die Regierung nur einen Teil der Baustelle. Die niedrigen Kapital- und Unternehmenssteuern sind bislang nicht in der öffentlichen Diskussion, obwohl der lettische Fiskus dringend mehr Einnahmen für einen besseren Sozialstaat benötigt. Das ginge aber nur in Abstimmung mit den anderen EU-Ländern, doch bislang herrscht zwischen ihnen Wettbewerb um die niedrigsten Steuern – zulasten jener Einwohner, die auf einen leistungsfähigen Sozialstaat angewiesen sind.
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