Lettisches Centrum Münster e.V.

   

Der medizinische Rettungsdienst in Riga verkündet den Ausnahmezustand
13.11.2018


Unterbezahlt und überfordert

Lettischer RettungswagenAm 9. November verkündete der Medizinische Rettungsdienst Lettlands (NMPD) den Ausnahmezustand für Riga. Dessen Leiterin Liene Cipule erklärte, dass in der Hauptstadt viele Rettungsmedziner in letzter Zeit den Dienst quittiert hätten. Die Gründe dafür seien die hohe Arbeitsbelastung und die schlechte Bezahlung. Die noch bestehende Regierung hatte beträchtliche Gehaltserhöhungen für das kommende Jahr vorgesehen. Aber noch ist unklar, ob das zukünftige Kabinett mit neuem Premier und neuen Ministern dieses Versprechen erfüllen wird. Für Patienten bedeutet dies, dass Rettungsfahrzeuge voraussichtlich nur noch kommen, wenn akute Lebensgefahr besteht.

Lettischer Rettungswagen im Einsatz, Foto: LP

 

Schlecht honorierte Fahrten ins Ungewisse

Cipule beschrieb Journalisten am 9. November die missliche Lage: In den letzten Tagen hätten in Riga 15 Mitarbeiter gekündigt und weitere könnten folgen. Im NMPD-Zentrum der lettischen Hauptstadt arbeiten derzeit 735 Rettungsmediziner und 254 Fahrer, laut Cipules Angaben fehlen mindestens 200 bis 250 Fachkräfte (diena.lv). Die Mediziner arbeiteten lieber an Tankstellen oder im Lager einer Supermarktkette. Hauptgrund für diesen Exodus seien die unverhältnismäßige Arbeitsbelastung und die niedrigen Gehälter. Aksels Roshofs, Leiter der NMPD-Regionalstelle Riga, beschrieb die Situation vor Ort. Ein Team müsse in einer gewöhnlichen Schicht zu 15 bis 20 Einsätzen ausfahren, auch außerhalb Rigas. Normal seien zehn Einsätze. Er ist der Ansicht, dass für die gut ausgebildeten Spezialisten, die sich in mehreren Sprachen verständigen können, 738 Euro kein angemessenes Gehalt seien (ob brutto oder netto blieb leider unerwähnt). Die medizinischen Helfer fühlen sich wenig geschätzt. Roshofs berichtet von Übergriffen, wie sie in den letzten Jahren auch in Deutschland zu beobachten waren: „Wir fahren auf jeden Notruf hin ins Ungewisse, arbeiten zum Wohle der Gesellschaft. Wir begegnen schweren Traumata, aber auch Angriffen krimineller Natur auf die Rettungsdienste. Wenn im Monat etwa vier Angriffe auf die Teams erfolgen, dann ist das nicht normal.“ (lsm.lv)

 

Viele Sanitäter haben einen Zweitjob

In der Radiosendung „Pecpusdiena“ erläuterte ein NMPD-Angestellter aus Jurmala, dass ihm kaum Freizeit bleibt. Für etwa 240 Arbeitsstunden, die er im Monat für den NMPD leiste, erhalte er 600 Euro auf seinem Konto. Er müsse wie viele seiner Kollegen einem Zweitjob nachgehen: „Nach erfolgter Schicht für den NMPD begeben sich die meisten zur zweiten Arbeitsstelle, meistens einem Krankenhaus oder einer medizinischen Einrichtung. Wenn man in der Nacht bereits mit 17 Notrufen ausgelastet war, was als recht intensive Arbeit gilt, dann urteilen sie selbst, wie angemessen und urteilsfähig solch ein ermüdeter Mediziner ist, der sich zur nächsten Arbeitsstelle mit anderen Patienten begibt.“ Auch er hält die anstrengende und anspruchsvolle Tätigkeit für unterbezahlt und unterschätzt: „Solche Notrufe können tatsächlich sehr unterschiedlich sein und nicht alle sind imstande, wie wir es beispielsweise erlebt haben, in ein Gesicht mit einem vom Revolver zerschmetterten Gehirn zu schauen, aufgehängte Menschen zu sehen, die in der Scheune noch im Wind schaukeln. Es ist nicht schwer, in Riga für eine ähnliche Bezahlung viel geruhsamere Arbeit zu finden.“ (lsm.lv)

 

Gesundheitsministerin Anda Caksa warnt vor Panikmache

Die Erklärung des Ausnahmezustands bedeutet, dass die Rettungsdienste in Riga nicht mehr auf jeden Notruf reagieren werden. Telefonische Berater sollen Patienten von der Nutzung der Rettungsfahrzeuge abhalten, solange keine akute Lebensgefahr besteht. Jeder vierte Notruf könnte bald mit einer Absage beschieden werden. Der Verband der Rettungssanitäter warnte den noch amtierenden Ministerpräsidenten Maris Kucinskis vor Engpässen während der bevorstehenden Jubiläumsfeierlichkeiten, wenn sich viele ausländische Gäste in Riga aufhalten werden (lsm.lv). Die noch amtierende Gesundheitsministerin Anda Caksa, selber Ärztin, warnt wiederum davor, Panik zu verbreiten. In diesem Fall bedeute der Ausnahmezustand lediglich, dass sich die Bestimmungen des Ministerkabinetts lockerten, sich beispielsweise der Kreis jener Ärzte erweitern könne, die ein Rettungsteam leiten dürften. Zudem könne man die neue Regierung, der Caksa nicht mehr angehören wird, an die in Aussicht gestellten Gehaltserhöhungen erinnern (diena.lv).

 

Ungleiche Lohnverhältnisse sind ein eu-weiter Missstand

Tatsächlich hatte nach Gewerkschaftsprotesten (LP: hier) und Aufforderungen der EU, die gesundheitliche Versorgung zu verbessern, die noch amtierende Regierung Kucinskis` geplant, von 2019 bis 2021 die staatlichen Gehälter im medizinischen Bereich pro Jahr um 20 Prozent zu erhöhen. Doch aus jenen Kreisen, die voraussichtlich die neue Regierung bilden werden, erhob sich Kritik an der Gesundheitsreform, weil sie die Einführung eines Krankenkassensystems vorsieht, das tausende Patienten, die nicht sozialversicherungspflichtig sind, von bestimmten Versorgungsleistungen ausschließt - solange sie nicht die Beiträge für eine freiwillige Mitgliedschaft aufbringen. Allerdings herrscht unter den konkurrierenden Parteien weitgehend Einigkeit, dass Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger bessere Gehälter erhalten sollen. Das Problem zu niedriger Löhne hat innerhalb der EU Binnenmigration zur Folge. Medizinische Fachkräfte werden in Westeuropa deutlich besser bezahlt, Lettland bekommt diesen Brain Drain zu spüren, nicht nur in Riga, nicht nur in den Rettungsdiensten. Das Lohnproblem kann die lettische Regierung als Teil des EU-Binnenmarktes und Euro-Währungsraums allein nicht lösen. Zu schockartige Gehaltserhöhungen bedingen Inflation und gefährden die Wettbewerbsfähigkeit der lettischen Volkswirtschaft. Gerechte Löhne und Angleichung der Lebensverhältnisse wären eine wichtige Aufgabe der gesamten EU, doch sie ist offenbar weder in den Lobbysälen Brüssels noch in den Schreibstuben der sogenannten Leitmedien ein vordringliches Thema.

 

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