Lettland: Streit in der Regierungskoalition wegen Medizinergehälter
23.11.2019
Premier Krisjanis Karins weist öffentlich seine Ministerin Ilze Vinkele zurecht
Vor zwei Wochen protestierten Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte vor der Saeima. Der Gesetzgeber hatte Gehaltserhöhungen zugesichert, die die neue Regierung unter Krisjanis Karins in ihrem Haushaltsplan für 2020 dann doch nur zur Hälfte finanzieren wollte (LP: hier). Die Regierungsfraktion Attistibai/Par! (AP), der auch die Gesundheitsministerin Ilze Vinkele angehört, appellierte am 22. November 2019 an das Regierungskabinett, das Geld für die gesetzlich festgelegte Gehaltserhöhung vollständig aufzubringen und sie mit höheren Schulden zu finanzieren. Die Antwort des Ministerpräsidenten Karins, der Mitglied in der kleinsten Parlamentsfraktion, der Partei Jauna Vienotiba (JV) ist, kam prompt: Eine Erhöhung der Schulden sei unvernünftig, die Ministerin solle ihre Arbeit machen, statt Geld zu fordern.
Gesundheitsministerin Ilze Vinkele, Foto: Saeima.lv
Regierungsfraktion Attistibai/Par! (AP) und Gesundheitsministerin Vinkele für höhere NeuverschuldungVertreter des Parteienbündnisses AP erläuterten den Medien am Freitag ihre Forderung, die fehlenden 60 Millionen Euro durch höhere Neuverschuldung aufzubringen. Sie beriefen sich auf ein jüngst veröffentlichtes Papier der EU-Kommission (bnn.lv). Demnach ist der Anteil dessen, was der lettische Fiskus für die medizinische Versorgung ausgibt, noch weiter gesunken, auf gerade mal 3,5 Prozent vom BIP. Das entspricht kaum noch der Hälfte von dem, was im EU-Durchschnitt Gesundheitsminister für medizinisches Personal, Krankenhäuser, Rettungsdienste, Arztpraxen, Gesundheitskampagnen, Medikamente usw. ausgeben. Zwar sehe die lettische Regierung nominale Budgetsteigerungen im Gesundheitsressort vor, doch sie reichten nicht, um der negativen Bevölkerungsentwicklung entgegenzuwirken. „Dies ergibt für die gesundheitliche Versorgung eine besonders ungünstige Situation gegenüber den Verhandlungen in anderen Ressorts,“ stellt die EU-Kommission fest.
Nach Auffassung des Parteienbündnisses AP darf sich der lettische Fiskus höher verschulden, ohne von Brüssel angemahnt zu werden. Die derzeitig geplante Neuverschuldung sei mit 0,6 Prozent vom BIP geringer als der EU-Durchschnitt von 0,8 Prozent. Die Gesamtverschuldung Lettlands ist mit 36 Prozent vom BIP die zweitgeringste in der Eurozone und deutlich geringer als deren Durchschnitt von 86 Prozent. (Übrigens sind die von Brüssel auferlegten monetaristischen Grenzen für Gesamt- und Neuverschuldung unter Ökonomen sehr umstritten (youtube.de)). Wenn die EU-Kommission von den strikten Sparvorschriften der letzten Jahre Abstand nehme, dann müssten auch die Regierung und die Saeima fähig sein, sich im Haushalt für das kommende Jahr mit Medizinern und Patienten zu einigen, meinte Gesundheitsministerin Vinkele. Die Gesundheit müsse Priorität für die gesamte Regierung und für die Gesellschaft haben.
Abfuhr vom Ministerpräsidenten Krisjanis Karins
Kurze Zeit später wies Ministerpräsident Karins in einer Pressekonferenz das Anliegen der AP strikt zurück (lsm.lv). Er forderte seine Ministerin öffentlich auf, ihr Ressort in Ordnung zu bringen und sich ihrer prinzipiellen Arbeit zu widmen. Er drohte, dass eine Erhöhung der Schulden um 60 Millionen Euro nicht ohne Folgen bleiben werde, denn dann müsse man eine der „großen“ Steuern erhöhen, beispielsweise die Mehrwertsteuer. Diese zu erhöhen gilt unter Sozialexperten als besonders unsozial, da sie vor allem die Bezieher geringer Einkommen trifft. „Es ist in unser aller Interesse, dass die Ministerin ihre Arbeit macht, statt Geld zu fordern,“ meinte Karins und fügte hinzu: „Frau Vinkele muss vorschlagen, wie das System in Ordnung gebracht werden kann. Ich erwarte von der Ministerin Vinkele konkrete Lösungen, wie sich das System effektiver machen lässt.“
Nach dieser Abfuhr stand AP-Politiker Daniels Pavluts, der einst selbst Minister war, seiner Parteifreundin Vinkele beiseite: „Unsere Gesundheitsministerin hat diese Vorwürfe nicht verdient. Sie ist aktiv, aber dafür erntet sie Vorwürfe vom Premier.“ Er sei über Karins` Äußerungen wirklich verblüfft. Das Für und Wider zur Schuldenaufnahme spaltet die Regierungsfraktionen. Saeima-Abgeordneter Janis Dombrava, der der Nationalen Allianz angehört, glaubt, dass sein Parteienbündnis Vinkeles Vorschlag unterstützen könne, falls es dem Finanzministerium gelinge, sich darüber mit der EU-Kommission zu einigen. Auch Martins Bitans, Ökonom der lettischen Nationalbank, wertet höhere Neuverschuldung positiv. Die Konjunktur bremse ab, da könnten mehr staatliche Ausgaben die Wirtschaft stimulieren. Janis Platais, der dem Rat für Fiskaldisziplin vorsteht, lehnt hingegen eine weitere Kreditaufnahme ab. Schon das derzeitige Defizit entspreche nicht dem Gesetz.
Teilerfolge der Demonstranten
Die jüngsten Turbulenzen in Karins` fragiler Fünf-Parteien-Koalition lassen sich als Teilerfolg der protestierenden Ärztinnen, Pfleger und ihrer gewerkschaftlichen Vertreter werten. Dass eine gesetzlich beschlossene Gehaltszusage nur zur Hälfte erfüllt werden soll, bringt die politischen Repräsentanten in Erklärungsnöte. Nach ihrer Demonstration vom 7. November forderten Gewerkschafter den Rücktritt der Gesundheitsministerin und schlossen sich einer Initiative an, per Volksabstimmung das Parlament aufzulösen. Dafür wurden in den letzten Tagen bereits mehr als 30.000 Unterschriften gesammelt. Valdis Keris, Vorsitzender der Gewerkschaft der Beschäftigten in der gesundheitlichen und sozialen Pflege (LVSADA), begründete diese Aktion gegen die Parlamentarier: „Wenn für die jetzige Saeima sich die Last des Eids als zu schwer erwiesen hat und sie, ungeachtetet ihres feierlichen Versprechens, in ihrer Arbeit das lettische Gesetz zu beachten, gezeigt hat, dass sie dazu nicht imstande ist - konkret bezogen auf das Finanzierungsgesetz für die gesundheitliche Versorgung - dann hoffen wir, dass in jener, die an ihre Stelle rücken wird, Ehrenhaftigkeit und Vertrauen im Geschworenen einen deutlich höheren Gehalt finden.“
Die Gewerkschafter wandten sich zudem an Staatspräsident Egils Levits und forderten ihn auf, den inzwischen von der Saeima beschlossenen Budgetentwurf für 2020 nicht zu unterzeichnen. Jurist Levits kritisierte, dass die Parlamentarier Widersprüchliches beschlossen haben: Diese Praxis, zunächst etwas zu versprechen und später nicht zu halten, sei unannehmbar. Eine solche Praxis habe es auch schon in frühreren Parlamenten gegeben, nämlich Gesetze zu beschließen, die dann nicht im Haushalt finanziert worden seien. Seine Staatskanzlei werde das verabschiedete Budget sorgfältig vor der Unterzeichnung prüfen. Levits fordert, das Finanzierungsgesetz der gesundheitlichen Versorgung „in Ordnung zu bringen“, damit es mit dem Haushaltsgesetz des kommenden Jahres übereinstimmt. Die Gewerkschafter hätten es wohl lieber umgekehrt (lsm.lv).
Ilze Vinkele verlautbart, dass sie nicht die Absicht hat, zurückzutreten. Die Gewerkschafter werden am 28. November wieder vor der Saeima demonstrieren, um deren Auflösung zu fordern. Seit der Finanzkrise ist die lettische Gesundheitsversorgung im EU-Vergleich ziemlich mangelhaft. Die damalige Kahlschlagspolitik führte dazu, dass über die Hälfte der Krankenhäuser geschlossen wurde, Personal entlassen und dem Rest der Beschäftigten die Gehälter empfindlich gekürzt wurden. Davon hat sich das lettische Gesundheitssystem bis heute nicht erholt. Frustration der Beschäftigten, Emigration des Fachpersonals und eine Verstärkung des Mangels sind die Folgen. Patienten büßen es mit hohen Zuzahlungen, langen Wartezeiten und schlechter Behandlung.
Doch nicht nur das medizinische Personal im Staatsdienst beschwert sich über zu niedrige Bezahlung, auch Lehrerinnen und Lehrer und andere staatliche Angestellte protestieren dagegen. Die Regierung ist in einer misslichen Situation. Eine spürbare Anhebung aller Gehälter, die notwendig wäre, um zu dem aufzuschließen, was in Westeuropa gezahlt wird, ist unter den gegebenen Rahmenbedingungen der EU nicht möglich, ohne die eigene Volkswirtschaft zu ruinieren. Allerdings ist in der Regierungskoalition aus rechtsliberalen und nationalkonservativen Fraktionen, die wirtschaftspolitisch monetaristisch gesinnt sind, auch kein Interesse erkennbar, sich auf EU-Ebene für eine wesentliche Änderung dieser Rahmenbedingungen einzusetzen.
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