Rede der Parlamentspräsidentin Inara Murniece zum 101. Jahrestag der lettischen Republik
20.11.2019
„Den Staat gestalten wir gemeinsam, unabhängig von der Volkszugehörigkeit“
Der 18. November ist der höchste Nationalfeiertag Lettlands. Vor nunmehr 101 Jahren wurde an diesem Tag in Riga, im (heutigen) Nationaltheater, die lettische Republik verkündet. Dieser Feiertag bedeutet für die Repräsentanten des Staates viel Arbeit. Zu den alljährlichen Ritualen gehört die feierliche Sitzung des Parlaments mit einer Festansprache der Vorsitzenden. Dieses Amt hat seit 2014 Inara Murniece (Nationale Allianz, NA) inne. Zur diesjährigen Jubiläumsrede ließ sie sich von Janis Rainis inspirieren (saeima.lv). Murniece zitierte zu Beginn Verse aus dem Epos „Daugava“, das Lettlands bekanntester Dichter 1919, im entscheidenden Jahr des nationalen Befreiungskampfes, veröffentlichte: „Wir wollen eine lettische Seele!/ Wir wollen eine eigene lettische Sprache!/ Wir wollen ein eigenes lettisches Land!/ Wir wollen frei sein!/ Wir wollen ein eigenes Leben in Freiheit!/ Und wir werden es erlangen!“ Murniece bezeichnete Rainis` Text als eines der glänzendsten poetischen Werke, das das Ziel des lettischen Volkes zum Ausdruck bringe, nämlich den eigenen lettischen Staat. „Dieses Ziel begeisterte im Unabhängigkeitskrieg [von 1919] und es begeistert uns noch heute.“ Der Einsatz und der Kampf für die eigene Unabhängigkeit, die eigene Sprache und die lettische Seele strukturierte die Rede Murnieces, die verdeutlicht, wie eng die heutigen politischen Einschätzungen mit den historischen Erfahrungen verbunden sind.
Parlamentspräsidentin Inara Murniece bei ihrer Ansprache am 18.11.2019, Foto: Saeima
Freiheitskämpfe und Verteidigungsbereitschaft
Murniece erinnerte zunächst an das Jahr 1919, das Jahr der Freiheitskämpfe, als lettische Einheiten an mehreren Fronten im Einsatz waren: gegen die Rote Armee der Bolschewisten und gegen russische und deutsche Söldner, womit offenbar die weißgardistische Armee von Pawel Bermondt-Awalow gemeint ist. Die siegreiche Schlacht der Esten und Letten in der Jahresmitte gegen Soldaten der (Deutsch)Baltischen Landeswehr, den vormals Verbündeten, benennt die Saeima-Vorsitzende nicht näher: „Für die Schlacht erhob sich Lettlands Armee, die sich Mitte des Jahres 1919 bildete. Zur Mobilisierung meldeten sich Studenten, Schüler, Bewohner der Stadt und des Landes. Unter den Letten entfachte eine noch nicht erlebte Welle des Patriotismus`. Alle erhoben sich, um Lettland zu verteidigen! Der errungene Sieg im Unabhängigkeitskrieg stärkte den lettischen Staat und bekundete die Stärke des Volkes. Im Unabhängigkeitskrieg härtete sich die Seele unseres Volkes ab. Der Mensch wächst gemeinsam mit seinem Land, und im Herzen kennt er selbst die Hauptsache – Lettland ist das Allerwichtigste!“
Dann kamen die langen Jahre der sowjetischen Okkupation, in denen in Lettland ein „unmenschliches und absurdes“ Regime geherrscht habe. „Bis endlich das Verlangen nach Freiheit es beseitigte und das Volk seinen Staat erneuerte.“ Allerdings erfolgte die erneute Unabhängigkeit nicht militärisch, sondern mit zivilem Widerstand.
Aus diesen historischen Erfahrungen leitet Murniece die Verpflichtung der Volksvertreter ab, sich für ein freies, unabhängiges Land einzusetzen und das bedeutet für die Saeima-Vorsitzende vor allem ein Bekenntnis zur NATO: „Besonders bedeutsam ist die NATO-Mitgliedschaft. Seit dem Eintritt in diese politische und militärische Allianz sind 15 Jahre vergangen und das ist eines unserer größten außenpolitischen Errungenschaften seit der Erneuerung der Unabhängigkeit. Sie ist die Garantie kollektiver Sicherheit und ein großer Beitrag für die Stärkung der Verteidigung. Daher begrüßt Murniece die umstrittene Anwesenheit internationaler NATO-Truppen auf lettischem Territorium: „Die erweiterte Präsenz von NATO-Verbündeten auf lettischem Boden mehrt für jeden von uns das Sicherheitsgefühl.“
Ungeachtet des NATO-Angriffskriegs auf Jugoslawien und Angriffe einzelner NATO-Mitglieder auf weitere Länder (z. B. den Angriff auf den Irak, an dem sich die lettische Armee beteiligte) behauptet die NA-Politikerin: „Die NATO ist eine Allianz, die niemanden angreift, sondern die sich selbst zu verteidigen versteht. Das entspricht vollkommen unserer Mentalität.“ Die Allianz sei in jeglicher Art zu unterstützen. Murniece kleidet sie mit Worten wie „Sicherheit“. „Solidarität“ und „strategische Partnerschaft“ in einen gefälligen sprachlichen Rahmen: „Wir danken den Regierungen Kanadas und Albaniens, Tschechiens und Italiens, Polens, Montenegros, der Slowakei, Sloweniens und Spaniens und deren Streitkräfte für die Solidarität, die Sicherheit in der baltischen Region zu stärken. Wir schätzen unsere strategische Partnerschaft mit den USA hoch, die unsere Priorität ist und bleiben wird.“
Die eigenen historischen Erfahrungen bedingen die Solidarität mit der Ukraine und ebenso heftige Kritik an Russland, dem Murniece bei dieser Gelegenheit noch eine Deportation aus sowjetischer Zeit als Genozid vorwirft: „Wir schätzen die Souveränität der Ukraine und ihre territoriale Einheit sehr hoch ein und gerade deshalb setzen wir uns stark für sie ein. Wir unterstützen ihre politische und wirtschaftliche Integration in die EU. Für uns ist und wird die widerrechtliche Annexion der Krim niemals hinnehmbar sein, die Russland durchführte und Lettland erachtet die Deportation der Krimtataren als Genozid.“
Dann skizzierte die Rednerin die Rolle kleiner Staaten in der heutigen globalisierten Welt, die sie schon in einer postglobalisierten Ära ankommen sieht, die multipolar von den Weltregionen Amerika (gemeint sind offenbar die USA), der EU und Asien mit China an der Spitze beherrscht werde. Nach dem Motto „Der Kleine ist der junge Große“ könnten die baltischen Länder der EU helfen, ihre Dynamik zu steigern, sich in der Kultur, im Sport, in der Wissenschaft und bei Innovationen auszuzeichnen, mit eigenem Wachstum.
Murniece empfiehlt in der postglobalen Welt eine Annäherung an skandinavische Länder, mit denen man einen neuen Hanse-Bund schließen könne: „Gerade deshalb ist das Streben nach skandinavischen Standards richtig und weitsichtig und das ist eine zu erfüllende Aufgabe.“ In sozialpolitischer Hinsicht war bislang von einer solchen Annäherung nichts zu bemerken.
Einsatz für die lettische Sprache
Als zweites Thema benannte Murniece die lettische Sprache. Die Sprache sei das, was das Denken des Menschen bestimme. Die lettische Sprache sei das Kommunikationsmittel der gesamten Gesellschaft und Staatssprache. Der Einfluss des Russischen (während der sowjetischen Besatzung) habe den Gebrauch des Lettischen verzögert, zugleich erlebe man den wachsenden Einfluss des Englischen und seiner Dominanz auf globaler Ebene. Das entfache Sorgen um den täglichen Gebrauch des Lettischen und seiner zukünftigen Entwicklung.
Als Nationalkonservative befürwortet Murniece das Gesetz der Parlamentarier, auch an den Minderheitenschulen (meistens jene der russischen Minderheit) Lettisch als vorrangige Unterrichtssprache einzuführen (wogegen die russische Minderheit des Landes protestiert). „In den Minderheitenschulen fehlen noch Lettischlehrer. Medien, die gezwungen sind, mit aktuellen Informationen zu konkurrieren, offenbaren ein recht oberflächlichliches Sprachwissen. Sprachwissenschaftler sorgen sich um das Risiko, dass die lettische Sprache als Wissenschaftsprache verlorengehen kann. Das sind ernstzunehmende Alarmsignale! Man muss gute Lösungen finden, die die Entwicklung der Sprache sichern. Wir haben schon bestimmt, dass unser Bildungssystem auf allen Ebenen auf die lettische Sprache übergeht. Man muss eine qualitative Ausbildung in der Staatssprache gewährleisten, beginnend mit dem Kindergarten und endend mit der Hochschule.“
Die Stärkung der Staatssprache müsse fortgesetzt werden. Spezialisten seien davon überzeugt, dass jene Sprachen Zukunftsaussichten hätten, die von den neuen Technologien benutzt werden. Doch zur Zeit der Staatsproklamation von 1918 sei die Situation der lettischen Sprache viel schwieriger gewesen: „Die politischen und gesellschaftlichen Vertreter jener Zeit widmeten, obwohl sie überwiegend ihre Bildung in russischer oder deutscher Sprache erlangt hatten, ihre Arbeit und ihr Leben dem Ziel, dass Letten frei leben könnten in ihrem Land und ihre eigene Sprache sprechen. Damit die lettische Sprache in jedem Lebensbereich lebendig würde.“
Die lettische Seele
Schließlich nannte sie ein drittes Stichwort aus den Rainis-Versen, die lettische Seele. Ein Bekenntnis zu ihr sei nicht an der ethnischen Zugehörigkeit gebunden: „Den Staat gestalten wir gemeinsam, unabhängig von der Volkszugehörigkeit. Wichtig ist, dass wir alle gemeinsame Werte haben. Deshalb danken wir am Tage des Staatsjubiläums jedem, der seine Arbeit dem Wohle Lettlands gewidmet hat, damit es wohlhabender, gerechter, stärker werde. Dank allen lettischen Bürgern, die Lettland lieben und stärken, die bereit sind, gemeinsam mit Lettland zu wachsen.“ Allerdings lässt diese versöhnliche Anrede die noch mehr als 200.000 Nichtbürger meist russischer Herkunft außen vor.
Im Lettland der Vorkriegszeit habe sich das Selbstbewusstsein des lettischen Volkes entwickelt, das durch Bildung, Kultur, „doch auch“ durch Wirtschaft vermehrt wurde. Das nationale Bewusstsein habe das Überleben in einer 50jährigen sowjetischen Herrschaft ermöglicht. „Nationale Identität, Selbstbestimmung, Selbstbewusstsein machen jedes Volk stärker. Lettland hat in der Zeit seines Bestehens immer auf der Würde des Menschen und Freiheitsprinzipien basiert, auch jede ethnische Minderheit geschützt und geachtet. Das war im Lettland der Vorkriegszeit so, so ist es heute.“
Im Zusammenhang mit der lettischen Seele widmete sich die Parlamentsvorsitzende auch der Mentalität ihrer Abgeordneten. Die praktische Politik sei fragmentierter und emotionaler geworden. Mittlerweile bilden fünf rechtsliberal bis nationalkonservativ gesinnte Parteien oder Allianzen die Regierung, um die größte Fraktion, die sozialdemokratische Saskana, der man von lettischer Seite vorwirft, russische Interessen zu vertreten, weiterhin von der Macht fernzuhalten.
Es entstehe unwillkürlich die Sorge, ob nach langen Debatten immer qualitative und professionelle Beschlüsse gefasst würden. (Jüngst provozierten die Abgeordneten den Unmut der Ärzte und Krankenschwestern, weil eine gesetzlich zugesicherte Gehaltserhöhung nun im neuen Budget nur zur Hälfte finanziert wird (LP: hier)). Murniece appelliert an ihre Kollegen, die Gesetzgebung nicht zu sehr zu „politisieren und subjektivieren“.
Als parlamentarische Aufgabe hat sie drei Ziele vor Augen: Eine Besserung der demographischen Situation, die Gestaltung einer effektiven Verwaltung und einer ebenso effektiven Wirtschaft mit hoher Wertschöpfung und Produkten, die weltweit nachgefragt werden.
Zuletzt wandte sich Murniece an das Volk, erinnerte an den Weg, den Lettland in den letzten 30 Jahren zurückgelegt habe. „Im großen Maß haben wir das Gute erneuert, das in der Zeit sowjetischer Okkupation verlorenging oder beschädigt wurde. Wir haben viel Überanstrengtes und teure Verführungen eingestreut, die uns mit den Anfängen unseres Landes und der Vorkriegsepoche verbinden. Als wir das erste Jahrhundert des eigenen Staates erwarteten und erlebten, haben wir das nationale Selbstbewusstsein sehr gepflegt.“
Und an die Jugend gerichtet: „Uns ist eine neue junge Generation entstanden, die nach der Erneuerung der lettischen Unabhängigkeit geboren wurde – sie besteht aus offenen, klaren, patriotischen und kenntnisreichen Jugendlichen. In die staatliche Verwaltung sind junge Spezialisten mit hervorragender Ausbildung gekommen, mit Auslandserfahrung und dem Willen zur Arbeit.
Vor 30 Jahren konnten wir uns nicht ausmalen, wie wir heute leben. Heute, an der Schwelle zum zweiten Jahrhundert Lettlands, ist uns schon bewusst, dass die Zukunft viele einstweilen unbekannte Veränderungen mit sich bringen wird. Doch über einige Dinge können wir vollkommen gewiss sein: über unser Land, das eigene Volk, über die eigene Wertigkeit, die wir stets schützen werden.“
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