Lettland: Medizinische Fachkräfte protestieren gegen gebrochene gesetzliche Finanzierungszusagen
08.11.2019
Parlamentspräsidentin Inara Murniece entschuldigt sich beim medizinischen Fachpersonal
Vor der Saeima versammelten sich nach Gewerkschaftsangaben am 7. November 2019 etwa 4.000 medizinische Fachkräfte und Medizinstudenten, um in Särgen das lettische Gesundheitssystem samt Volk zu Grabe zu tragen. Manche Demonstranten hatten Koffer dabei: „Wenn es weiter bei leeren Versprechungen bleibt und Gesetze nicht beachtet werden, dann ist das unsere einzige Alternative, leider,“ meinte ein vom lettischen Fernsehen LTV1 interviewter Teilnehmer auf die Frage, ob er abreisen wolle (lsm.lv). Die Vorgängerregierung unter Maris Kucinskis hatte Ärzten, Pflegern und Helfern nach vielen Protesten und Verhandlungen (LP: hier) endlich Gehaltserhöhungen zugesagt. Bis 2021 sollten die Gehälter um 20 Prozent steigen, um dem weiteren Brain Drain, insbesondere des Pflegepersonals, entgegenzuwirken. Dafür waren für das nächste Jahr 120 Millionen Euro vorgesehen. Am 13. November 2018 hatte die neu gewählte Saeima das Vorhaben des nur noch geschäftsführend regierenden Kabinetts Kucinskis` gebilligt: Im Jahr 2021 wollte der lettische Gesetzgeber sogar 315 Millionen Euro mehr für die Gehälter in der staatlichen medizinischen Versorgung ausgeben als 2018. Doch nachdem sich im Frühjahr nach langwierigen Koalitionsverhandlungen eine Regierung aus fünf rechtsliberal bis nationalkonservativ orientierten Parteien unter Ministerpräsident Krisjanis Karins gebildet hat, will das neue Kabinett sich nicht an das beschlossene Gesetz halten. Karins (Jauna Vienotiba) stellte in den Budgetplanungen für das kommende Jahr höchstens die Hälfte der zugesagten Finanzierung in Aussicht.
Früherer Protest des medizinischen Personals vor der Saeima, Foto: LP
Als sich Parlamentspräsidentin Inara Murniece (Nationale Allianz) vor der Kundgebung zeigte, wurde ihre Rede überschrien. Zu lange hatten sich Gewerkschafter und Vertreter von Ärzteverbänden auf die Worte von Politikern verlassen, immer wieder verhandelt, gekämpft, demonstriert, bis schließlich im letzten Jahr der Durchbruch erreicht schien. Murniece bat die Vertreter der Gewerkschaft und der Berufsverbände zu einem Gespräch ins Saeima-Gebäude. Sie entschuldigte sich im Namen der Parlamentarier für das verabschiedete Gesetz, das nun nicht finanzierbar sei. Die Saeima sei bereit, die Arbeit mit Branchenvertretern fortzusetzen, um in den kommenden Jahren eine Lösung zu finden.
Die Demonstranten und ihre gewerkschaftlichen Vertreter werden sich auf solche hinhaltenden Erklärungen nicht mehr verlassen. Valdis Keris, Vorsitzender der Gewerkschaft für gesundheitliche und soziale Versorgung (LVSADA), kündigte nach den fruchtlosen Gesprächen an, dass die Proteste fortgesetzt werden. Ilze Aizsilniece, Vorsitzende des Ärzteverbandes, wies auf eine Protestwoche vom 8. bis 14. November hin: „Holt die Fahne ein, zündet Kerzen an!“ Sie glaubt daran, dass die Zusage des Gesetzgebers doch noch erfüllt werde.
Lsm.lv-Journalisten befragten weitere Demo-Teilnehmer; einer von ihnen hatte vor zwei Jahren erwogen, Lettland zu verlassen, doch die Gehaltszusagen hätten ihn zum Bleiben motiviert: „Aber du wirst einfach betrogen!“ Ein Kardiologe, der bislang in Deutschland arbeitete und sich nun mit seinen lettischen Kollegen solidarisiert, beschämt es, wie Mediziner hierzulande um ihre Gehälter bitten müssen und sieht darin eine Demütigung.
Durchschnittliche Lebenserwartung in ausgewählten EU-Staaten 2017
Spanien |
83,4 |
Italien |
83,1 |
Schweden |
82,5 |
Österreich |
81,7 |
Deutschland |
81,1 |
EU |
80,9 |
Estland |
78,4 |
Litauen |
75,8 |
Lettland |
74,9 |
Bulgarien |
74,8 |
In Spanien lebt man durchschnittlich fast zehn Jahre länger als in Lettland, das vor Bulgarien den vorletzten Platz in dieser EU-Statistik einnimmt. (statista.com)
Die zuständige Gesundheitsministerin Ilze Vinkele (Attistibai/Par!) traute sich, nach der Protestkundgebung eine anschließende Vollversammlung der Angestellten in der Rigaer Pauls-Stradins-Universitätsklinik aufzusuchen. Wie in anderen Kliniken arbeitete an diesem Tag nur ein Notdienst. Sie wies auf ihre Zwischenstellung zwischen Regierung und medizinischen Fachkräften hin, behauptete aber „Ich bin absolut auf eurer Seite, ich bin mit euch!“ Doch dann rückte auch sie von den zugesagten 120 Millionen Euro für das kommende Jahr ab, es sei ein schwerer Kampf gewesen, auf 60 Millionen zu kommen. Sie glaubt nicht daran, dass die Saeima die Budgetplanung noch einmal ändern werde.
Vinkele äußerte im Fernsehen eine generelle Kritik an der lettischen Budgetplanung, die Jahrzehnte wirtschaftsliberaler Politik, die von wechselnden Mitte-Rechts-Regierungen gleichermaßen betrieben wurde, infrage stellt: Die bisherigen Budgeteinnahmen reichten nur aus, um ein Armutssystem aufrecht zu erhalten (lsm.lv). Mit den bisherigen Steuereinnahmen könne man nicht die Finanzierung aller Berufszweige sicherstellen. Dabei fordere sie nicht, die Steuern für jene Menschen zu erhöhen, die mit Lohnarbeit ein mittleres Einkommen erzielten, erinnerte aber daran, wie internationale Experten mehrfach betont hätten, wie gering die Kapitalertragssteuer in Lettland ist.
OECD und EU haben die zu geringen Ausgaben des lettischen Fiskus` für die staatliche Gesundheitsversorgung mehrfach angemahnt. Eine Pressemitteilung der LVSADA erinnert daran: „Dieses Jahr beträgt die staatliche Finanzierung der Gesundheitsversorgung in Lettland 3,9 Prozent vom BIP. Die jüngsten Empfehlungen der EU-Kommission und der OECD sehen für Lettland eine wesentliche Steigerung der staatlichen Finanzierung für die medizinische Versorgung vor, um Zugang und Qualität zu verbessern. Dasselbe ist auch im Finanzierungsgesetz für die gesundheitliche Versorgung festgelegt. Ungeachtet dessen plant die Regierung in den kommenden Jahren, die staatliche Finanzierung der gesundheitlichen Versorgung auf 3,3 Prozent des BIP zu verringern.“ (lvsada.lv) Mit diesem Anteil erreicht Lettland kaum die Hälfte dessen, was EU-Staaten durchschnittlich für die Gesundheit ihrer Bürger ausgeben. Lange Wartezeiten, verschobene Operationen, hohe Zuzahlungen, ermüdetes und unzufriedenes Personal sowie Emigration von Fachkräften und damit eine insgesamt mangelhafte Versorgung sind die Folgen.
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