Lettisches Centrum Münster e.V.

   
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Lettland: Saeima vertagt die Wiedereinführung der Wehrpflicht
26.10.2022


Bürgerinitiative fordert freiwillige Rekrutierung

Das lettische Verteidigungsministerium, Foto: Edgars Koðovojs, CC BY-SA 3.0, Saite

Der scheidende Verteidigungsminister Artis Pabriks hatte geplant, den Gesetzentwurf seines Hauses zur Wiedereinführung der Wehrpflicht am 20. Oktober 2022 dem Parlament vorzulegen. Doch die Mitglieder des Verteidigungsausschusses sahen sich mit zahlreichen Änderungsanträgen konfrontiert, für deren Prüfung sie mehr Zeit benötigen. Kritiker bemängeln Unklarheiten und Widersprüche in der Gesetzesvorlage. Nicht alle Letten befürworten die Wiederauflage der militärischen Dienstpflicht. Die gerade gewählten Saeima-Abgeordneten, die ab November tagen werden, müssen sich mit einem erfolgreichen Bürgervotum auf Manabalss.lv auseinandersetzen, das das Prinzip der Freiwilligkeit einfordert.


Der Angriff der russischen Armee auf ukrainisches Territorium alarmierte die lettische Öffentlichkeit. Bereits seit 2014 steigen von Jahr zu Jahr die lettischen Militärausgaben; die Verteidigungsminister kauften davon Waffen und Panzerfahrzeuge. Nun soll die lettische Armee personell verstärkt werden. Artis Pabriks kündigte im Juli 2022 an, die Wehrpflicht, die 2006 abgeschafft wurde, wieder in Kraft zu setzen (LP: hier). Jeweils im Januar und Juli sollen Männer zwischen 18 und 27 Jahren für einen neunmonatigen Wehrdienst eingezogen werden. Zusätzlich zur Versorgung in der Kaserne erhalten die Rekruten 400 Euro Sold monatlich, die Wochenenden sind frei. Die ursprüngliche Überlegung, auch Frauen zu verpflichten, wurde verworfen; für Frauen ist der Dienst nun ab 2028 freiwillig. Nach bisheriger Vorlage müssen in den kommenden Jahren sich auch lettische Staatsangehörige, die sich im Ausland befinden, auf einen Einberufungsbescheid gefasst machen. Das Ministerium will verhindern, dass man dem Militärdienst durch die Anmeldung eines Wohnsitzes im Ausland entkommt (sargs.lv).


Kritiker werfen dem Entwurf zahlreiche Mängel vor. Das Büro des lettischen Bürgerbeauftragten wendet ein, dass unklar bleibe, wie lange Ersatzdienste, die beispielsweise bei der ehrenamtlichen Nationalgarde geleistet werden können, überhaupt dauerten (lsm.lv). Auch der juristische Dienst der Saeima kritisierte den Gesetzestext scharf; Finanzierung und Fragen des Zivilersatzdienstes für Kriegsdienstverweigerer sind ebenfalls ungeklärt (lsm.lv). Juris Rancans (Die Konservativen), der derzeit noch Vorsitzender des Verteidigungsausschusses ist, hielt einem Abgeordneten der Nationalen Allianz, der eine Vertagung ablehnte, am Vortag der Saeima-Sitzung die Arbeitsüberlastung seines Gremiums entgegen: “Sie verfolgten gerade die Kommissionssitzung und wie die Situation sich darstellt, nämlich, dass sehr viele Vorschläge eingereicht wurden und dass sie sehr umstritten sind und deren Durchsicht kann einfach nicht physisch bis morgen bewältigt werden. Und es wäre falsch, dass wir, die scheidende 13. Saeima, ein tatsächlich schlechtes Gesetz beschließen, bei dem der Präsident nicht einmal die Möglichkeit hätte, es [dem amtierenden Parlament zur Überarbeitung] zurückzugeben, weil in großer Eile abgestimmt wurde.”  


Am 20. Oktober 2022 stimmten die Abgeordneten mit großer Mehrheit für die Vertagung. Nur Vertreter der Nationalen Allianz und der Partei des Verteidigungsministers votierten dagegen. Die Verzögerung führt dazu, dass die ersten Rekruten nicht wie zunächst geplant im Januar 2023, sondern frühestens im Juli eingezogen werden können. Zunächst soll die Rekrutierung auf freiwilliger Basis erfolgen. Eigentlich sollten die Nationalen Streitkräfte (NBS) derzeit nach Plan 7100 Soldaten beschäftigen, doch es sind momentan nur 6666. In diesem Jahr verzeichnet die lettische Armee, die personell verstärkt werden soll, nur sechs Soldaten zusätzlich. Bis 2020 rekrutierte das Militär mehr freiwillige Berufssoldaten als geplant. Doch seit 2021 ist die Bewerberzahl stark rückläufig. Sandis Gaugers, Kommandeur einer Infanterie-Brigade, begründet den Rückgang mit dem Kriegsgeschehen in der Ukraine: “Der Krieg in der Ukraine verängstigt die Bevölkerung und das ist vermutlich einer der wichtigsten Gründe, weshalb derzeit die Bewerberzahl für die Berufsarmee viel geringer ist als in den Jahren zuvor.”


Grundsätzlichere Kritik formuliert eine Petition auf der digitalen Bürgerplattform Manabalss.lv. Innerhalb von 20 Tagen hat sie bereits mehr als 12.000 Stimmen von Bürgern gesammelt, die die Wehrpflicht ablehnen. Mit diesem Votum muss sich die neu gewählte Saeima auseinandersetzen. Initiator dieser Petition ist Sergejs Pogorelovs, ein Parteifreund des Verteidigungsministers. Er meint, dass die lettische Armee statt zum Dienst zu verpflichten, ihr Prestige steigern sollte, auch mit besserer Bezahlung und Vergünstigungen: “Wenn die Bedingungen attraktiver sind, werden sich mehr Freiwillige für den Dienst bewerben; falls er mehr Prestige hat, wird das die staatliche Sicherheit wirksamer stärken als eine Dienstpflicht.” Pogorelovs ist überzeugt, dass ein Staat, der keinen Zwang auferlegt, von den Bürgern mehr respektiert werde und die Motivation von Freiwilligen höher sei. “Eine respektvolle Einstellung des Staates zu seinen Bürgern fördert den Patriotismus. Achten wir die Freiheit und bewahren wir lettischen Jugendlichen die Möglichkeit, für sich selbst zu entscheiden.”


Latvijas Radio berichtete zudem am 22. Oktober 2020 über eine Demonstration einiger Dutzend junger Bürger, die an einem Protestmarsch zwischen dem Nationaldenkmal und dem Denkmal Oskars Kalpaks, dem bekanntesten Kommandeur des lettischen Freiheitskampfes am Ende des Ersten Weltkriegs, teilnahmen (lsm.lv). Die Demonstranten bekannten sich zum Patriotismus, dennoch widersetzen sie sich einer Rekrutierungspflicht. LSM-Journalist Viktors Demidovs befragte einige Teilnehmer nach ihren Motiven. Zu den Argumenten zählten sie, dass der Staat in den persönlichen Lebenslauf eingreife, das Gesetz schlecht und populistisch gemacht sei, aber ein anonymer Befragter meinte auch: “Die Militarisierung des Landes ist etwas, dem ich nicht beipflichte.”


In der lettischen Gesellschaft scheint die Frage ungeklärt, ob sich der lettische Staat oder die Bürgerschaft in der Rolle des Erziehers befindet; ein PR-Text des Verteidigungsministeriums fordert die gegenteilige Haltung ein, denn diese staatliche Instanz fordert vom Bürger Einsicht: “Die lettische Gesellschaft muss umdenken und wie in Finnland akzeptieren, dass der Dienst in der staatlichen Armee eine Ehrensache und für jeden eine Verpflichtung ist, keine Strafe.” (sargs.lv)


Seit dem 19. Jahrhundert führten die entstehenden Nationalstaaten die allgemeine Wehrpflicht ein, in Preußen beispielsweise in Folge der napoleonischen Besatzung. Aus deutscher Perspektive ist sie eine umstrittene Bürgerpflicht. Einerseits argumentieren Befürworter, dass ein demokratischer Staat eine demokratische Armee brauche, an der alle Bevölkerungsgruppen beteiligt sind, um eine Verselbstständigung einer Berufsarmee als Staat im Staat zu verhindern. Andererseits argumentieren prinzipielle Militärkritiker, dass Wehrpflicht stets auf den Krieg vorbereitet. Aus deutscher Sicht kommt hinzu, dass die Wehrpflicht von den Herrschaftseliten mindestens zweimal missbraucht wurde, wobei sich zeigte, dass sie das Leben des einzelnen leichtsinnig aufs mörderische Spiel setzten: Im Ersten Weltkrieg starben junge Männer wegen der Unbedarftheit der politischen und militärischen Führung des Deutschen Reichs, die die Folgen des Kriegseintritts unterschätzte; im Zweiten Weltkrieg starben wehrpflichtige deutsche Soldaten in einem menschenverachtenden Angriffskrieg, waren folglich Täter und Opfer zugleich. Doch die Konzepte des 19. Jahrhunderts scheinen nach wie vor aktuell; alternative Möglichkeiten werden in der Öffentlichkeit nur von wenig beachteten Minderheiten, z.B. im Bund für soziale Verteidigung, diskutiert (soziale-verteidigung.de).


Udo Bongartz 




 
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