Lettisches Centrum Münster e.V.

   

Nachricht des Tages (4.8.08): Verfassungsreferendum in Lettland gescheitert, Präsident übernimmt
04.08.2008


Saeima in RigaDas plebiszitäre Quorum, das die Verfassung Lettlands für eine Änderung ihrer selbst vorsieht, ist eigentlich relativ einfach: Artikel 79 schreibt für diesen Fall eine Mehrheit der Wahlberechtigten vor. Am 2. August lag die Marke deshalb bei exakt 757 607 - so viele Bürger hätten sich im Rahmen eines Referendums für eine Novellierung des Grundgesetzes aussprechen müssen, wonach die Saeima (das Parlament) auch im Wege einer Volksabstimmung aufgelöst werden kann. Die Zahl des Samstagabends lautete aber 608 601 Ja-Stimmen, womit dem Begehren sozusagen auf den letzten Metern die Luft ausgegangen war. Ganz hatte der regenschirmbewehrte Volkswille den Schwung aus dem letzten Herbst nicht mehr wahren können, was aber nicht unbedingt bedeutet, daß er nun als zahmer Bettvorleger gelandet wäre. Weit gefehlt.

Mit der beschaulichen Ruhe vor dem lettischen Parlament könnte es bald vorbei sein. Photo: Udo Bongartz
 
Die offiziellen Statistiken der Zentralen Wahlkommission in Riga weisen nämlich aus, daß von den 629 064 Wahlberechtigten, die am Samstag an die Urnen gegangen waren, immerhin fast 97% für die Verfassungsänderung votiert hatten - und damit deutlich mehr als jene 469 934, die bei den letzten Parlamentswahlen für die Parteien der derzeitigen Regierungskoalition gestimmt hatten. Und vor allen diesen sollte durch das Referendum die rote Karte gezeigt, das Menetekel einer jähen Abberufung ins Stammbuch geschrieben werden.

Worum es dabei geht, zeigt eine repräsentative Latvijas-fakti-Umfrage vom Juli. Danach sieht sich die Hälfte der lettischen Wahlbevölkerung derzeit nicht zu einem verantwortungsbewußten parlamentarischen Handeln in der Lage - 31,7% wissen nicht, welcher Partei sie ihre Stimme geben sollten, weitere 20% würden erst gar nicht zur Urne gehen. Und von den Parteien des aktuellen Regierungslagers würde nur eine die 5%-Hürde mit Ach und Krach schaffen - nämlich die Zaļo un zemnieku savienība (Bündnis der Grünen und der Bauern), gleichauf mit der rechten Oppositionspartei Neues Zeitalter (Jaunais laikmets), während der leicht links- und russischlastige Saskaņas centrs (Zentrum der Eintracht) mit 11% zum ersten Mal stärkste politische Kraft wäre (Db.lv, 31. Juli).

Als ob diese Nachricht für das Regierungslager im besonderen, aber auch für die politische Kaste in Lettland im allgemein nicht schlimm genug wäre, ließ der Privatsender TV 3 am 1. August eine weitere Bombe platzen und veröffentlichte drei Listen aus den umfänglichen Ermittlungsakten gegen den Bürgermeister von Ventspils, Aivars Lembergs, dem in Kürze der Prozeß wegen zahlreicher Geldwäsche- und Korruptionsdelikte gemacht werden soll. Treffen die dortigen Angaben tatsächlich zu, dürfte das millionenschwere Stadtoberhaupt in einer Manier, die an die berühmte "Pflege der politischen Landschaft" in der Bonner Republik erinnert, querbeet geschmiert haben - der warme Geldregen traf demnach von 2000 bis 2002 sowohl heutige Regierungsparteien wie die Grünen und Bauern oder den Latvijas ceļš (Weg Lettlands), der derzeit Premier Ivars Godmanis stellt, aber auch Jaunais laiks des selbsternannten Saubermanns, Ex-Notenbank-Chefs und -Ministerpräsidenten Einars Repše (s. die Zusammenfassung in Diena.lv, 1. August).
 
Schmiergeldliste
 Das könnte eine Lembergs-Schmiergeldliste sein. Steht Jaunais laiks für die gleichnamige Partei? Und ZZS für Zaļo un zemnieku savienība? Nichts Genaues weiß man noch nicht... Photo: TV 3

Den Machthabenden in Riga mußte es unter diesen Bedingungen vorkommen, als könnte sich am Samstag der Orkus vor ihren Füßen auftun; nahezu geschlossen agitierten sie bis zur letzten Minute gegen das Referendum, malten abwechselnd eine Russengefahr oder Weimarer Verhältnisse an die Wand. Umso peinlicher ihr Katzenjammer am Tag nach dem Urnengang und die kläglichen Versuche zurückzurudern. Wenn auch die Abstimmung in ihrer Zielstellung eindeutig gescheitert ist, so zeigt das Ergebnis vor allem eines: eine Verstetigung des Abscheus gegen den verfilzten, möglicherweise sogar hochkorrupten Politik-Sumpf in der Saeima. Und das in einem Ausmaß, das selbst den hartgesottenen Machthabenden angst und bang werden läßt.

Noch am Samstag hatte der Vorsitzende der mitregierenden Tautas Partija (Volkspartei) und Ex-Premier Aigars Kalvītis getönt, das Referendum sei "ein Politspektakel, das die Verfassungsgrundlagen" der Republik Lettland "zerstören" werde. Nach den 608 601 Ja-Stimmen ist ihm nun aber urplötzlich aufgegangen, die Zeit sei "reif für Verfassungsänderungen". Ins selbe Horn stoßen jetzt auch die Grünen und Bauern, und selbst Ministerpräsident I. Godmanis grummelt, man komme nicht umhin, eine Novelle zu beschließen (Diena, 4. August).

Dafür, daß dieser gute Vorsatz nicht in Vergessenheit gerät, sorgt inzwischen Staatspräsident Valdis Zatlers. Auf die Forderung von Jaunais laiks, sein Verfassungsrecht auf Entlassung des Parlaments zu nutzen, reagierte er inzwischen mit der Ankündigung, er werde das Hohe Haus damit beauftragen, eine Verfassungsänderung zu erarbeiten, die eine Auflösung der Saeima im Wege einer Volksabstimmung vorsieht. In Zeiten einer galoppierenden Inflation und eines merklichen Wachstumseinbruchs  dürften die nächsten Monate in Lettland sehr spannend werden. Vor allem, wenn im Lembergs-Verfahren die letzten Kürzel aus diversen Listen entschlüsselt werden...

-OJR-



 
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