Lettischer Gesetzgeber schränkt wegen Sicherheitsbedenken Zugriff auf Behördeninformationen ein
Karikatur aus dem Jahr 1849: Der Schulmeister züchtigt die “unartigen Kinder”: Rede- und Pressefreiheit, das Petitionsrecht und das Recht auf freie Versammlung, Foto: Gemeinfrei, Link
Vor einigen Tagen berichtete die Berliner Zeitung über den Fall, der die Frage aufwerfe, “wie viel eine europäische Demokratie” aushalten müsse (berliner-zeitung.de). Die lettischen Medien verbreiteten im Februar nur eine Meldung der Nachrichtenagentur LETA über Andrijec Festnahme. Der lettische Geheimdienst VDD hatte sie im Visier. (apollo.lv). Demnach gefährde sie als Betreiberin des Telegram-Kanals Baltijas Antifasisti die lettische Sicherheit.
Die 22jährige studierte seit letztem Jahr in Sankt Petersburg, doch Anfang dieses Jahres stattete sie ihrer Heimat Lettland einen Besuch ab. Der VDD führte bei ihr eine Hausdurchsuchung durch und stellte Datenträger als Beweismittel sicher. Die Ermittler leiteten gegen Andrijec ein Strafverfahren ein; seitdem befindet sie sich in Riga in Untersuchungshaft.
Laut einer Meldung der Nachrichtenagentur LETA war die Studentin als prorussische Aktivistin aktiv. Sie ist Mitglied der Kleinpartei Russische Union Lettlands, leitet seit letztem Jahr den Jugendrat russischer Landsleute in Lettland, besuchte im Oktober den Weltkongress russischer Landsleute in Moskau.
Die Fahnder werfen ihr vor, auf ihrem Telegram-Kanal unentwegt Russland und dessen Außenpolitik zu rühmen, ebenso dessen “Aggression gegen die Ukraine”. Ihre Sendungen forderten öffentlich dazu auf, Cyberangriffe gegen lettische Behörden und Unternehmen zu starten. Zudem appelliere der Kanal an die Zuschauer, Informationen über die lettische Armee und über die Infrastruktur von NATO-Verbündeten auf lettischem Territorium zu sammeln. Ebenso interessiere sich der Kanal für Informationen über lettische Amtsträger und über Personen, die sich gegen den Krieg Russlands in der Ukraine wendeten.
Die gesammelten Informationen sollen dem russischen Geheimdienst und anderen russischen Behörden zur Verfügung gestellt werden. Ziel sei es laut VDD, die öffentliche Meinung und Entscheidungsprozesse in Lettland zugunsten Russlands zu beeinflussen. Der lettische Geheimdienst ermittelt nicht nur gegen Andrijec. Die Berliner Zeitung nennt 16 weitere Journalisten, gegen die im April ein Gerichtsverfahren eröffnet worden ist. Sie hatten für die russischen Webportale Sputnik und Baltnews berichtet, gegen die die EU ein Sendeverbot erlassen hat. Sollten sich die Beschuldigten in Lettland aufhalten, droht ihnen wie Andrijec eine mehrjährige Haftstrafe. Im Januar 2023 nahm der VDD den lettischen Staatsbürger Marat Kasem fest, der für Sputnik tätig war. Die Europäische Journalistenföderation kritisierte dieses Vorgehen (LP: hier).
Andrijecas Mutter schrieb an die Berliner Zeitung; sie hält die Festnahme ihrer Tochter für unbegründet. Die Partei Russische Union Lettlands ist derselben Ansicht und verlautbarte in den digitalen Netzwerken, dass der “Kampf für Gerechtigkeit” fortgesetzt werde. Gegen welche Gesetze Andrijeca in einem Land nun konkret verstoßen haben soll, dessen Verfassung die freie Meinungsäußerung garantiert, bleibt für lettische Medienkonsumenten fraglich. Bezog sich der Appell, Informationen zu sammeln, auf frei zugängliche Daten oder bedeutete er, dass die Zuschauer von Baltijas Antifasisti tatsächlich spionieren und Personenschutzrechte verletzen sollten? Wie konkret wurde der Aufruf, Cyberattacken durchzuführen, geäußert und auf welche Zitate beruft sich der VDD?
Solche Details bleiben in den lettischen Berichten ungeklärt und der dortige Mediennutzer hat auch keine Möglichkeit, sich über die russische Sichtweise dieses Falls zu informieren, weil in Lettland russische Medien blockiert werden.
Lettische Politiker und Behörden begründen die Inhaftierung journalistisch tätiger Personen mit dem Argument, dass die staatliche Sicherheit gefährdet sei. Ein solch diffus und weit gefasster Begriff von Sicherheit gefährdet wiederum die Informations- und Pressefreiheit; dafür bot der lettische Gesetzgeber am 20. April 2023 das jüngste Beispiel.
Lettische Behördenleiter erhalten eine neue Kategorie, um der Öffentlichkeit Informationen vorzuenthalten; zu den bisherigen Einstufungen “streng geheim”, “geheim” und “vertraulich” kommt nun “für dienstliche Zwecke” hinzu. Die Regierung begründete ihre Gesetzesinitiative mit der Absicht, staatliche Interessen und Sicherheit zu wahren.
Nach Kritik des lettischen Journalistenverbandes und von Nichtregierungsorganisationen wurde das Gesetz zwar etwas entschärft, doch wer sich nun Informationen beschaffen will, die ein Behördenleiter “für dienstliche Zwecke” bestimmte, muss fortan juristische Hürden überwinden: “Wenn es so scheint, dass die betreffende Information unbegründet geheim ist, dann wird man sich an das Gericht wenden können. Und dieses hat durch das Gesetz klare Vorgaben, die Frage im Wesentlichen zu prüfen und nicht einfach festzustellen, dass es sich um ein Staatsgeheimnis handelt,” meint die Leiterin von Providus, Iveta Kazoka. Zane Maze, Vorsitzende des Lettischen Journalistenverbandes, ist damit nicht zufrieden: “Wir haben weiterhin Sorgen, dass überhaupt in irgendeiner Weise versucht wird, den Zugang zu Informationen zu erschweren.” (lsm.lv)
Udo Bongartz
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