Lettisches Centrum Münster e.V.

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Rigas Zirkus: Die Stätte waghalsiger Veranstaltungen, einst und in Zukunft, Teil 4
01.07.2022


Der Neubeginn

Rigas Zirkuskuppel wird restauriert, Foto: UB

Die sowjetische Zeit, als der Rigaer Zirkus eine staatliche Anstalt wurde, fasst Zane Volkinsteine kurz zusammen: Damals “wurde die Zirkustradition neu definiert: Das Unterhaltungsgenre wurde zur Volkskunst erklärt, als die für alle sozialen Schichten, Nationalitäten und Kulturen zugänglichste aller Künste. Dem sowjetischen Kulturministerium war die spezielle Organisation Sojusgoscirk unterstellt, welche alle Zirkuskünstler der UdSSR vereinte und die für ihre ununterbrochene Beschäftigung sorgte und Tourneen in die verschiedenen Städte und Manegen der gesamten Sowjetunion organisierte.” Die Hochseilartistin und spätere Zirkusleiterin Lolita Lipinska arbeitete für Sojusgoscirk. Sie berichtete in einem Interview, wie die sowjetische Regierung den Zirkus zentralisierte: Alle Zirkusmitarbeiter, Tiere, Zelte und Requisiten waren in einem Moskauer Büro registriert. Dort habe sich ein großer Tisch befunden, auf dem der momentane Aufenthaltsort aller Zirkusartisten im In- und Ausland, mehrere tausend Beschäftigte, erfasst war (jauns.lv).


Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit blieb das Rigaer Zirkusgebäude im staatlichen Besitz. “Rigas Zirkus` wurde zu einer eigenständigen Institution, die im traditionellen Zirkusformat aktiv blieb, in deren Veranstaltungen sowohl Menschen als auch Tiere auftraten,” erläutert Zane Volkinsteine. Dieses Format geriet vor acht Jahren in die Krise. Die lettische Tierschutzorganisation Dzivnieku Briviba forderte 2014 die Zirkusleitung auf, die Zusammenarbeit mit einem Elefantendresseur zu beenden. Über den Dompteur, der in Riga gastierte und dem man bereits an anderen Zirkusstätten in Europa gekündigt hatte, existierte ein entlarvendes Video. Es zeigte, wie er seine Tiere mit Metallhaken misshandelte. Doch die damalige Zirkusleiterin Lipinska bestritt die Vorwürfe, sie konnte sich einen Zirkus ohne Tiere gar nicht vorstellen. Dzivnieku Briviba organisierte Protestkundgebungen, forderte Besucher auf, die Veranstaltungen zu boykottieren. Schließlich setzten sich die Aktivisten mit einer Manabalss-Petition dafür ein, Aufführungen mit Tieren ganz zu verbieten. Mit mehr als 26.000 Stimmen fanden sie in der Saeima Beachtung: 2018 verbot der lettische Gesetzgeber, Tiere in der Manege vorzuführen.  


Zu dieser Zeit traf den Zirkus eine weitere Hiobsbotschaft. Wegen unklarer Eigentumsverhältnisse, die erst einmal die Gerichte klären mussten, hatte das Kulturministerium lange nichts in das Gebäude investiert. Erst 2014 wurde Rigas Zirkus als staatliche GmbH organisiert. Seit den 50er Jahren war die Manege an der Merkela Straße nicht mehr renoviert worden. Die Baubehörde nahm die Stätte 2015 in die Liste gefährdeter Gebäude auf. Journalistin Inita Saulite-Zandere zitierte aus einem Gutachten: “Als man neulich die Fassadenmauer stabilisierte, zeigte sich, dass unter dem Bogen, wo die Pferde hineingeführt wurden, sich gar keine Fundamente befanden.”(jauns.lv) An einigen Stellen hatte sich das Mauerwerk um bis zu 20 Zentimeter abgesenkt. Für Saulite-Zandere ist das ein Hinweis auf die Entstehungszeit: Salamonski hatte seinen spektakulären Vergnügungstempel hastig und ohne Genehmigung errichten lassen. 2016 wurde der Zirkus aus Sicherheitsgründen geschlossen. Es wurde Zeit für einen Neuanfang.


Inzwischen setzen Bauarbeiter das Gelände instand und bereiten es unter Beachtung von Denkmalschutzbestimmungen auf die zukünftige Nutzung vor. In Riga kann man weiterhin Zirkusveranstaltungen besuchen. Die Zirkusleitung organisiert Abende mit internationalen Artisten auf anderen Bühnen, zum Beispiel im Kulturpalast VEF oder im Russischen Theater in der Innenstadt. Seit Ende des letzten Jahres ist Mara Pavula neue Zirkusdirektorin. Sie vertritt die Ideen des Cirque actuel, eines französischen Zirkuskonzepts, das ohne Tiere auskommt. Pavula studierte es im Rahmen eines Austauschprogramms der Lettischen Kulturakademie mit der Pariser Universität Vincennes (an der Michel Foucault dozierte und Alice Schwarzer Studentin war). Internationale Artisten demonstrieren in Riga, was Cirque actuel zu bieten hat: Körperliche Höchstleistungen, die mit wenig Inventar auskommen. Die Artisten sind Spitzensportler und Künstler zugleich. Sie erzählen ihrem Publikum pantomimisch und mit strukturierender musikalischer Begleitung Geschichten über die wechselvollen Verhältnisse des menschlichen Daseins. Ihre Darbietungen sind genauso waghalsig oder noch waghalsiger wie zu Fräulein Eugeniens Zeiten, Nachahmungen für den ungeübten Laien genauso lebensgefährlich.


In Rigas Russischem Theater trat neulich das kanadische Duo “Machine de Cirque” mit seinem Programm “Ghost Light” auf. Maxim Laurin und Ugo Dario arbeiten seit 15 Jahren zusammen. Ihre gemeinsamen Darbietungen auf dem Trampolin sind in perfekter Weise aufeinander abgestimmt und ihre Luftsprünge muten so gefährlich wie Balancieren auf dem Hochseil an. Vor fast ausverkauftem Haus zeigten sie eine Stunde lang körperliche Höchstleistungen. “Ghost Light” handelt von einer Legende, nach der nachts auf den Zirkusbühnen die Gespenster erscheinen. In diesem Dämmerlicht finden sich die beiden, kooperieren und streiten sich, zeigen, wie sie aufeinander angewiesen sind, um diese Artistik heil zu überstehen. Die musikalischen Klänge begleiten nicht nur, sondern gliedern die verschiedenen Szenen der einstündigen Aufführung.


Momentan ist der Arbeitsplatz der PR-Beauftragten Zane Volkinsteine von emsigen Bauarbeitern bevölkert: “Derzeit finden Arbeiten statt, die Energieeffizienz der Heizung zu verbessern, die Kuppel und die Fassade zu erneuern. Diese Arbeiten sollen im Herbst beendet werden und ab 2023 können wir Publikum begrüßen. Mit weiteren Planungen sind Finanzierungsfragen verbunden, um das Projekt des Architekturbüros NRJA vollständig zu realisieren, neben der Manege eine Zirkusschule anzubauen und für Gastartisten eine Herberge für ihre Aufenthaltsdauer einzurichten. Zudem ist eine Art Passage geplant, die durch den Innenhof des Zirkus führt und die Merkela Straße mit der Kalnina Straße auf der Rückseite verbindet. So schafft man öffentlich nutzbaren Raum. In der letzten Bauphase ist ein Steg zur Stadterkundung geplant.” Mit der Neugestaltung der Manege, eine der wenigen festen Zirkusbauten in Europa, wird sich der fünfte und letzte Teil beschäftigen.


UB 

 

Rigas Zirkus: Die Stätte waghalsiger Veranstaltungen, einst und in Zukunft, Teil 1

Die Anfänge als Zirkus Salamonski

Rigas Zirkus: Die Stätte waghalsiger Veranstaltungen, einst und in Zukunft, Teil 2

Als die Tiere der Manege Deutsch verstanden

Rigas Zirkus: Die Stätte waghalsiger Veranstaltungen, einst und in Zukunft, Teil 3

Die andere Welt im Wöhrmannpark

Rigas Zirkus: Die Stätte waghalsiger Veranstaltungen, einst und in Zukunft, Teil 4

Der Neubeginn.

Rigas Zirkus: Die Stätte waghalsiger Veranstaltungen, einst und in Zukunft, Teil 5

Das Zirkusgelände als spielerische Grenzerfahrung für alle

 




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