Lettland will russischen Staatsbürgern faktisch die Einreise verbieten
07.09.2022
Nur noch Beerdigungen als Grund für einen Grenzübertritt
Für Russen wird die Einreise nach Lettland deutlich erschwert, Foto: Gimnazists123 CC BY-SA 4.0, Saite
Reisen bildet und bahnt die Wege zur Völkerverständigung. Doch in Kriegszeiten herrscht Abschottung vor. Die Außenminister der baltischen Länder, Polens und Finnlands haben am 7. September 2022 bei ihrem Treffen im litauischen Kaunas beschlossen, die Einreise russischer Staatsbürger nur noch in wenigen Fällen zu gestatten. Die Begründung lautet: Sicherheitsbedenken. Auch wenn russische Bürger über ein Schengen-Visa verfügen, sollen die Grenzbeamten die Einreise in der Regel verweigern. Auch in dieser Angelegenheit zeigt sich eine Meinungsverschiedenheit mit der deutschen Regierung. Bundeskanzler Olaf Scholz möchte den Kontakt zur russischen Zivilgesellschaft halten und weiter Visa für Russen ausstellen lassen.
Ylva Johansson, EU-Kommissarin für innere Angelegenheiten, meinte am Dienstag gegenüber Journalisten, dass es derzeit “keine Grundlage für Vertrauen, keine Grundlage für eine privilegierte Beziehung zwischen der EU und Russland” gebe (euractiv.de). Das Visa-Abkommen, das die Mitglieder der Schengenzone 2007 mit Russland geschlossen hatten, will die EU-Kommission aussetzen. Für Russen, die in die 22 Länder der EU, Norwegen, Island, Schweiz oder Liechtenstein einreisen wollen, wird die Visa-Erteilung teurer und beschwerlicher. Statt wie bislang 35 Euro sollen sie 85 Euro bezahlen; die Bearbeitungszeit verlängert sich von 10 auf 15 Tage, in besonderen Fällen auf 45 Tage. Die zuständigen Behörden sollen keine russischen Pässe anerkennen, die auf ukrainischem Gebiet ausgestellt wurden. Die Antragssteller müssen den Grund der Einreise mit Dokumenten belegen. Nach den neuen Bestimmungen könnte ein Großteil der derzeit 12 Millionen ausgestellten Schengen-Visa für russische Reisende ihre Gültigkeit verlieren; doch noch müssen juristische Hürden geprüft werden.
Den Außenministern, die sich in Kaunas trafen, reicht diese Verschärfung nicht. Nach ihrer Auffassung stellen russische Bürger, die die Grenzen zum Schengenraum überqueren, eine Gefahr für die Sicherheit ihrer Länder dar. Das Schengener Abkommen sieht vor, dass Mitgliedstaaten die Einreise trotz gültigen Visums verweigern dürfen, wenn eine “Bedrohung für die öffentliche Ordnung, die innere Sicherheit, die öffentliche Gesundheit oder die internationalen Beziehungen” vorliegt. Politiker aus dieser Region argumentierten zuvor eher mit Empörung als mit Sicherheitsbedenken. „Es ist nicht in Ordnung, dass Russland einen aggressiven, brutalen Angriffskrieg in Europa führt und Russen gleichzeitig ein normales Leben leben und in Europa als Touristen verreisen können“, zitiert Business Insider die finnische Premierministerin Sanna Marin (businessinsider.de). Die Webseite zitiert zudem den estnischen Außenminister Urmas Reinsalu, der beklagte, dass „Massen russischer Touristen die westlichen Grenzen durch Finnland, Lettland und Litauen überqueren und in den Sommerferien den Louvre besichtigen, während in der Ukraine Kinder ermordet werden.“ Der lettische Außenminister Edgars Rinkevics hat angeordnet, Russen in der Moskauer Botschaft Lettlands keine Visa mehr zu erteilen, es sei denn, der Antragssteller begründet die Einreise mit der Beerdigung eines Angehörigen auf lettischem Territorium (delfi.lv). Rinkevics will die Verschärfungen der Visa-Bestimmungen nächste Woche im Ministerkabinett besprechen. Sollte eine Visa-Erteilung faktisch untersagt werden, würde dies vor allem die russischsprachige Minderheit Lettlands treffen, die verwandtschaftlich mit Russland verbunden ist.
Johansson verlautbarte zugleich die Absicht, die Kontakte zu russischen Dissidenten und zur russischen Zivilgesellschaft wahren zu wollen. Die Schwedin sucht offenbar nach einem Kompromiss zwischen der entschiedenen Position der baltischen Länder und Mitgliedstaaten wie Frankreich oder Deutschland, die keine drastischen Visa-Beschränkungen wünschen. Business Insider zitiert dazu Bundeskanzler Olaf Scholz, der die Forderungen der Balten und anderer Osteuropäer nicht unterstützt, weil sie Unschuldige träfen: „Das ist nicht der Krieg des russischen Volkes, das ist Putins Krieg. Da müssen wir sehr klar sein,“ meinte er Ende August in Oslo. In Deutschland steigt nach der Pandemie-Flaute die Zahl der Einreisenden aus Russland wieder. Nach Angaben des Auswärtigen Amts, die Business Insider erfragte, hat Deutschland im ersten Halbjahr 2022 für etwa 25.000 russische Bürger Visa erteilt. Antragsteller waren beispielsweise russische Fachkräfte, die für deutsche Firmen tätig sind, aber auch gefährdete Personen, Kritiker des Angriffskriegs und Oppositionelle, die ein Schengen-Visum benötigten.
An der lettisch-russischen Grenze müssen sich Reisende schon jetzt auf lange Wartezeiten und scharfe Kontrollen gefasst machen. Regina Ermins berichtete am 7. September 2022, dass Autofahrer am Grenzübergang Teherova stunden- zuweilen nächtelang in ihrem Fahrzeug verbringen, bis russische Grenzer sie abfertigen (la.lv). Seit Ende Juli würden die Fahrzeugkolonnen länger und länger. Umgekehrt fischen lettische Grenzer Einreisende mit belarussischem, russischem und sogar Kameruner Pass heraus (LP: hier). Diese Staatsangehörige werden überprüft, ob sie den russischen Angriffskrieg befürworten und unterstützen. In diesem Fall wird ihnen die Einreise schon jetzt verweigert (LP: hier).
Udo Bongartz
LP-Artikel zur lettischen Regierung und zu EU-Sanktionen gegen Russland
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